Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

Beutsches Keich. (Januar 26.) 49 
französisch-englischen Entente ausmachenden Zusammenwirken der beiden 
General- und Admiralstäbe durchaus entspricht. Wenn in bezug auf das 
englisch-belgische militärische Einverständnis von England die heuchlerische 
Ausrede gebraucht wird, die getroffenen Vereinbarungen hätten sich lediglich 
auf den Eventualfall einer Verletzung der belgischen Neutralität durch 
Deutschland bezogen und an sich keinerlei die Politik der beiderseitigen 
Regierungen verpflichtende Kraft gehabt, so ist dieser Einwand genau so 
viel und so wenig wert wie die gleiche Behauptung, die von englischen 
Staatsmännern seit einem Jahrzehnt vor dem Parlament und der Oeffent- 
lichteit in bezug auf den Charakter der französisch-englischen Entente immer 
wieder aufgestellt worden ist. Im Falle Belgien jedoch wird das Verhältnis 
ganz besonders deutlich illustriert. Unter den beschlagnahmten Papieren be- 
sindet sich eine Aufzeichnung von der Hand des Grafen von der Straaten, 
Direktors im belgischen Ministerium des Aeußern, über eine Unterredung 
des englischen Militärattachés in Brüssel, Oberstleutnant Bridges, mit 
dem belgischen Generalstabschef, General Jungbluth, vom 23. April 1912. 
In dieser Unterredung erklärte nach der Niederschrift des Grafen von der 
Straaten der Oberstleutnant Bridges: 
„Die englische Regierung hätte während der letzten Ereignisse (Ma- 
rokkokrisis) unmittelbar eine Landung bei uns (in Belgien) vorgenommen, 
selbst wenn wir keine Hilfe verlangt hätten.“ 
„Der General hat eingewandt, so heißt es in der Niederschrift weiter, 
daß dazu unsere Zustimmung notwenddig sei.“ 
„Der Militärattaché hat geantwortet, daß er das wisse; aber da wir 
nicht imstande seien, die Deutschen abzuhalten, durch unser Land zu mar- 
schieren, so hätte England seine Truppen in Belgien auf jeden 
Fall gelandet.“ 
Daß hiergegen von belgischer Seite eine Einwendung oder ein Vor- 
behalt gemacht worden sei, geht aus der Notiz des Grafen von der Straaten 
nicht hervor. 
Die Unverletzlichkeit der Neutralität Belgiens, um deretwillen Eng- 
land angeblich in den Krieg eingetreten ist, war England hiernach im Jahre 
1912 entschlossen gewesen über Bord zu werfen, ohne mit der Wimper zu 
zucken. Belgien selbst hatte durch die militärischen Abmachungen mit Eng- 
land seine Neutralität auf das schwerste kompromittiert. Wenn England 
trotzbem die Welt glauben machen will, daß es zum Schutz der Neutralität 
Belgiens das Schwert gezogen hat, so spielt es die Rolle des Verführers, 
der die von ihm verführte Unschuld zu schützen vorgibt. 
  
Aus den von den Dreiverbandsregierungen veröffentlichten Dokumenten 
ergeben sich also die folgenden Grundzüge der Entstehungsgeschichte des 
europäischen Krieges: 
1. Rußland hat den Krieg herbeigeführt durch seine am 31. Juli an- 
geordnete allgemeine Mobilmachung, die — wie den russischen Staats- 
männern auf das genaueste bekannt war — für Deutschland den Krieg un- 
vermeidlich machte. 
2. Alle Vorwände, die von der russischen Regierung für die allgemeine 
Mobilmachung gegeben werden, sind hinfällig. Weder österreichisch-ungarische 
noch deutsche militärische Maßnahmen können die allgemeine russische Mobil- 
machung begründen. Die russische Regierung hat vielmehr den Befehl zur 
allgemeinen Mobilmachung erlassen, unmittelbar nachdem auf Grund der 
Einwirkung des Deutschen Kaisers in Wien Oesterreich-Ungarn sich in dem 
serbischen Konflikt zu einer entscheidenden Nachgiebigkeit entschlossen und 
Europäischer Geschichtskalender. LVI. 4
	        
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