Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Erste Hälfte. (56a)

696 Bie österreichisch-ungarische Menarchie. (Dezember 7.) 
da unsere Gegner ihren gegen uns gerichteten feindseligen und eroberungs- 
süchtigen Absichten entsagt hätten. Allein die inneren Vorbedingungen 
des Friedens sind im gegnerischen Lager noch nicht vorhanden. Diese 
inneren Bedingungen fehlten noch. Sie fehlten von Anfang an, da 
man noch glaubie, die Eroberungsabsichten würden mit Leichrigkeit sich 
verwirklichen lassen; sie fehlten später, denn es kamen immer neue Mo- 
mente, auf die man Hoffnungen setzte: bald der Eintritt Italiens in den 
Krieg, bald die Erwartungen einer gleichen Stellungnahme Rumäniens. 
oder eines vollen Sieges an den Dardanellen, bald weiß Gott was. ZJeß## 
ist ihre letzte Zuflucht noch die Hoffnung, daß bei uns Entmutigung und 
Erschöpfung eintreten werden. Das ist es, wogegen wir alle Stellung zu 
nehmen haben, wogegen wir alle die Wahrheit zur Geltung zu bringen haben, 
daß es in der ganzen ungarischen Nation keinen einzigen Mann gibt, der 
den Frieden früher schließen möchte, als nachdem die Vorbedingungen eines 
ehrlichen, unsere Sicherheit und unsere zukünftige Größe verbürgenden 
Friedens geschaffen sein werden. Gewiß, wir alle sind darin ganz eines 
Sinnes, darum eben halte ich es für meine patriotische Pflicht, dies zu be- 
tonen und ich bin den Herren Abgeordneten von der anderen Seite sehr 
dankbar für diesen Widerhall, der eine Mißdentung einzelner der heutigen 
Erklärungen in einem Sinne verhütet, der dem betreffenden Herrn Ad- 
geordneten sicherlich fernlag. 
Im Verlaufe der Sißtzung erörtert auch Graf Andrassy (oppositionell) 
die Möglichkeit des Friedensschlusses: Es sei menschliche Pflicht, den Frieden in 
jenem Augenblick zu schließen, in dem dies möglich ist. Er sei vollkommen über- 
zeugt, daß wir imstande sind, den äußersten Widerstand unserer Feinde nieder-- 
zuringen und den Rrieg jortzusetzen, bis unsere Gegner gezwungen sind, um 
Frieden zu bitten. Es wäre jedoch ein Glück, wenn es gelingen würde, noch 
bevor dieser letzte Zeitpunkt eintritt, Frieden zu schließen. Wenn er trotzdem 
nicht für eine Friedensaktion eintrete, so liege die Ursache darin, daß er über- 
zeugt sei, daß diejenigen Faktoren, von denen bei uns Krieg und Frieden 
abhängen, es als den glücklichsten Augenblick bezeichnen würden, wenn sie 
das Schwert wieder in die Scheide stecken könnten. Außerdem halte ihn 
von jeder Friedensaktion der Umstand zurück, daß er leider auf der anderen 
Seite kein Anzeichen bemerke, daß derzeit der Friedensschluß möglich wäre. 
Alle Zeichen weisen vielmehr darauf hin, daß unsere Gegner sich in das 
gegenwärtige Ergebnis des Krieges noch nicht gefügt haben, daß sie alles 
aufbieten, um vielleicht dann doch das Kriegsglück noch zu wenden und 
daß die Erklärungen des französischen Ministerpräsidenten und die Aeuße. 
rungen im englischen Unterhause für den Friedensschluß unter den gegebenen 
Verhältnissen geringe Wahrscheinlichkeit bieten. 
Im Laufe der Debatte über das Budgetprovisorium beantragt Graf 
Michael Karolni, der Führer der Unabhängigkeitspartei, die Regierung solle 
angewiesen werden, die Wahlrechtsvorlage auf Grund des allgemeinen 
Wahlrechtes mit Fallenlassen des Vermögenszensus und Herabsetzung der 
Altersgrenze einzubringen. 
Rakowsky (eklerikale Volkspartei) wiederholt seinen früheren An- 
trag, betr. die Verleihung des Wahlrechtes an alle von der Front heim- 
gekehrten Soldaten, die das 22. Lebensjahr überschritten haben is. ob. 
29. April). Ministerpräsident Graf Tisza erklärt sich wiederum gegen 
diesen Antrag, weil es nicht ratsam sei, sich mit einer organischen Reform 
unter Einwirkung augenblicklicher Stimmungen zu beschäftigen und Fragen 
zu lösen, welche für lange Zeit das Schicksal der ganzen Nation entscheiden 
könnten. Mürde der Antrag angenommen werden, so könnte ein Zustand 
entstehen, von welchem es keine Rückkehr mehr geben würde. Der unga-
	        
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