Beutsches Reicz. (Januar 26.) 35
sei auf die Tatsache hingewiesen, daß Frankreich, gestützt auf den mit England
vereinbarten Operationsplan, seine Flotte im Mittelmeer konzentriert und
den Schutz seiner Küste am Kanal und am Atlantischen Ozean der englischen
Flotte überlassen hat. Ergaben sich aus dieser sehr materiellen Tatsache für
England wirklich keine zum mindesten moralischen Verpflichtungen?
Sophisten suchen mitunter nicht nur andere, sondern auch sich selbst
zu täuschen. Auch Sir Edward Grey scheint beim Beginn des Konflikts
sich selbst eine Freiheit vorgetäuscht zu haben, die er innerlich nicht besaß.
Nur so läßt sich die merkwürdige, von vornherein zum Scheitern ver-
urteilte Rolle erklären, in die sich Sir Edward Grey begab: Er wollte
Vermittler sein, wo er in Wirklichkeit Partei war.
Gewollt oder ungewollt mußte diese Zwitterstellung zur Unaufrichtig-
keit führen.
Man braucht nur im englischen Blaubuch (Nr. 17) zu lesen, was Sir
G. Buchanan bei Beginn der Krisis, am 25. Juli, Herrn Ssasonow auf
dessen Drängen nach einer Solidaritätserklärung Englands mit Frankreich
und Rußland antwortete:
"„r said that England could play the röle of mediator at Berlin
and Vienna to better purpose as friend who, it her counsels of mode-
ration were disregarded, might one day be converted into an ally, than
it she were to declare herself Russia's ally at once.“" (Ich sagte, daß
England die Rolle eines Vermittlers in Berlin und Wien mit besseren
Aussichten spielen könne, wenn es als Freund erscheine, der, wenn seine
Ratschläge zur Mäßigung nicht geachtet würden, sich eines schönen Tages
in einen Alliierten (nämlich Rußlands) verwandeln könne, als wenn Eng-
land sich von vornherein als Alliierten Rußlands erkläre.)
Das Wort vom „ehrlichen Makler“ kann auf einen solchen „mediator“
gewiß keine Anwendung finden.
Abgesehen davon, daß Sir Edward Grey auf Grund des Entente-
Verhältnisses zu Frankreich und auch zu Rußland nicht die Unbefangen-
heit und innere Freiheit hatte. die ihn allein zu der von ihm — wie in
anderen Fällen so auch in dem Konflikt wegen Serbiens — angestrebten
Rolle des Vermittlers und Schiedsrichters befähigt hätten, war er, die
Ehrlichkeit seiner eigenen friedlichen Absichten vorausgesetzt, in einer
schwierigen Lage gegenüber seinen Ministerkollegen, deren Haltung in der
Frage Krieg oder Frieden, wie später das Ausscheiden der drei Friedens-
freunde vor aller Welt offenkundig machte, nicht einheitlich war.
Zunächst setzte Sir Edward dem Drängen Rußlands und Frankreichs
nach einer sofortigen Solidaritätserklärung einigen Widerstand entgegen. Er
billigte durchaus die von Buchanan gegenüber Ssasonow am 24. Juli ab-
gegebenen Erklärungen, von denen die wichtigste war, daß England kaum eine
unbedingte Verpflichtung zur Waffenhilfe für Frankreich und Rußland eingehen
könne, da die öffentliche Meinung in England einen Krieg wegen Serbiens
nicht sanktionieren werde (Blaubuch Nr. 6); ja, er bestätigt ausdrücklich:
„l do not consider that public opinion here would or ought to
sanction our going to war over a Servian quarre!“ (Ich glaube nicht,
daß die öffentliche Meinung hier es sanktionieren würde oder dürfte, daß
wir wegen eines serbischen Streites in den Krieg gehen) (Blaubuch Nr. 24).
Die Haltung Englands hat, wie sich zwar nicht aus den veröffent-
lichten Dokumenten, aber aus der Presse jener Tage ergibt, in Petersburg
und Paris auf das peinlichste berührt.
Die russische und französische Diplomatie versuchte Sir Edward Grey
tu beeinflussen durch die Behauptung, die Gefahr liege darin, daß die
eutsche Regierung Englands Nichteinmischung als sicher ansehe; sobald
37