Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

814 Großbritannien. (August 28.) 
des Friedens auf den Knopf drücken wolle. Der deutsche Reichskanzler 
war nach seiner Rede nur für eine direkte Aussprache Wien-Petersburg. 
Aber was für Aussicht auf Erfolg hatte diese, wenn, wie wir nachher 
hörten, der deutsche Botschafter in Wien die Meinung äußerte, daß Rußland 
beiseite stehen würde, und wenn er auf seine Kollegen von vornherein den 
Eindruck machte, daß er von Anfang an den RKrieg wünschte, und wenn 
sein Auftreten dort wahrscheinlich durch sein starkes persönliches Vorurteil 
beeinflußt wurde? Eines Tages wird die Welt vielleicht erfahren, was 
sich zwischen Deutschland und Oesterreich in betreff des serbischen Ultimatums 
und dessen Folgen wirklich abgespielt hat. Es ist nur zu klar geworden, 
daß der Vorschlag einer Konferenz, den wir machten, und dem Rußland, 
Frankreich und Italien zustimmten, während Deutschland dagegen Einspruch 
erhob, die einzige Aussicht auf Frieden bot, und es bestand eine so be- 
gründete Hoffnung darauf. 
5. Und was ist das deutsche Programm, wie wir es aus der Rede 
des Reichskanzlers und den Aeußerungen der Politiker in Deutschland ent- 
nehmen können? Daß Deutschland eine Kontrolle über das Schicksal aller 
anderen Nationen ausüben will, es will der Schild des Friedens und der 
Freiheit der großen und der kleinen Nationen sein. Das sind die Worte des 
Reichskanzlers. Das würde einen eisernen Frieden unter preußischem Schild 
und deutscher Oberherrschaft bedeuten. Deutschland allein würde die Freiheir 
genießen, die internationalen Verträge zu brechen, und frei, sie zu ver- 
nichten, wenn es ihm gefalle, und frei, jede Vermittlung auszuschlagen, frei, 
Krieg anzufangen, wenn es ihm paßt, frei, wenn es wieder in den Krieg 
zieht, frei wiederum, alle Regeln zivilisierter Kriegführung und Menschlichkeit 
zu Lande und zur See zu brechen, und während es so handeln würde, 
würde sein ganzer Seehandel in Kriegszeit frei bleiben, wie es jeder Handel 
im Frieden ist. Es wäre sehr vernünftig, die Freiheit der Meere zum 
Gegenstande von Beratungen, Begriffsbestimmungen und Abkommen nach 
diesem Kriege zu machen, aber nicht als etwas Abgesondertes und nicht, 
solange kein Friede und keine Sicherheit gegen den Krieg und deutsche 
Methoden zu Wasser und zu Lande bestehen. Wenn es Garantien gegen 
einen zukünftigen Krieg geben sollte, so müßten sie allumfassend und wirksam 
sein und Dentschland ebenso wie die anderen Nationen, England ein- 
geschlossen, binden. Deutschland will an erster Stelle stehen, der Friede 
für die anderen Nationen würde der sein, den Deutschland gewährt. Das 
ist offenbar der Schluß, den man aus der Rede des deutschen Kanzlers 
ziehen kann. Der deutsche Finanzminister fügt dem hinzu, daß die schwere 
Bürde von tausend Millionen durch Dekaden nicht von Deutschland getragen 
werden müsse, sondern durch die, welche er die Anstifter des Krieges zu 
nennen beliebt. In anderen Worten: Auf Dekaden hinaus beansprucht 
Deutschland, daß ganze Nationen, die ihm Widerstand geleistet haben, ar- 
beiten sollen, um ihn in Form von Kriegsentschädigungen einen Tribut zu 
zahlen. Die Reden des deutschen Reichskanzlers und des deutschen Finanz- 
ministers zeigen, daß Deutschland um die Oberherrschaft und um einen 
Tribut kämpft. Wenn dem so ist, und solange es so ist, kämpfen unsere 
Verbündeten und wir, und wir müssen kämpfen um unser Recht zu leben, 
nicht unter Deutschlands Oberherrschaft, sondern in wirklicher Freiheit und 
Sicherheit. 
(Siehe die Entgegnung der „Nordd. Allg. Ztg.“ auf diesen Brief 
oben S. 444 ff.) 
28. Aug. In England wird ein antideutscher Bund ge- 
gründet.
	        
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