Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

946 Frankreich. (Dezember 25./28.) 
Schiedsgerichtsbestimmungen veröffentlichen über alle Streitigkeiten, die über 
ihre gemeinsamen Interessen entstehen könnten, und ein Beispiel geben, für 
das ihnen die neutralen Nationen erkenntlich wären und das den Weg für 
die einzigen, vollständigen Garantien eines dauerhaften Friedens öffnen würde. 
Die sozialistische Partei weiß, daß, solange die Ungerechtigkeit des 
Kapitalismus bestehen bleibt, des Kapitalismus, dessen wirtschaftliches Kon- 
kurrenzregime die Entfaltung des kolonialen Systems und des Imperia- 
lismus am höchsten gesteigert hat, Kriege bestehen, auch in Gemeinschaft 
mit dem Kapitalismus selber die Gefahren des Krieges bestehen bleiben. 
Aber die Welt steht vor folgender Alternative: Entweder wird sie die 
Praxis des Ultimatums beibehalten, und dann wird der Krieg mit dem 
vermehrten Gewicht der Rüstungen Europa in irgendeine neue Katastrophe 
stürzen, in der mit ihm die menschliche Zivilisation zugrunde geht — oder 
die Nationen werden sich zu der Praxis des internationalen Schiedsgerichts- 
verfahrens entschließen, zur Begrenzung der Rüstungen, zur demokratischen 
Kontrolle der eingegangenen Verpflichtungen, zur Abschaffung der Geheim- 
diplomatien, zur Verstaatlichung der Kriegsindustrie, zur Organisation des 
wirtschaftlichen und militärischen Schutzes gegen räuberische Nationen. 
Dann, aber auch nur dann kann Europa und die Welt mit Ruhe der fried- 
lichen Entwicklung und dem Fortschritt, den den Menschen der Sozialismus 
bringt, entgegensehen. 
Denen, die durch ihre Worte und ihre Taten, durch ihre ganze Krieg- 
führung proklamiert haben, daß die internationalen Verträge nur „Papier= 
fetzen“ sind, daß Not kein Gesetz kennt, die aus dem Völkerrecht einen 
Kinderspott gemacht haben, ihnen allen muß der siegreiche Friede, der dem 
Kriege folgen wird, die Verpflichtung zum Schiedsgericht und die Achtung 
der Unterschriften auferlegen als allgemeine Regelung des Verfahrens unter 
zivilisierten Nationen. Wenn die verbündeten Regierungen von jetzt ab er- 
klären, daß sie sich bemühen werden, dem Friedensschluß diesen Charakter 
zu geben und als oberste Regelung der Konflikte unter den Völkern das 
Schiedsgerichtsverfahren anzuerkennen, dann werden sie einen unvergleich- 
lichen Anstoß moralischer Kraft den heroischen Kämpfern verleihen, die 
solchermaßen fühlen, daß das Resultat ihrer Anstrengungen würdig ihres 
Opfers ist. 
Die feindlichen Regierungen sagen ihren Völkern, daß die Verbündeten, 
indem sie die Niederlage des preußischen Militarismus wollen, die Ver- 
nichtung Deutschlands erstreben. Die sozialistische Partei weist ihrerseits eine 
solche Auffassung zurück; weder politische Vernichtung Deutschlands, welches 
dann im Laufe der Zeit von neuem durch Blut und Eisen seine Einheit 
wiederherstellen müßte, noch wirtschaftliche Vernichtung, die unter Verletzung 
jeglichen Rechts eine ansehnliche Bevölkerung bedrücken und sie dem äußersten 
Zorn der Verzweiflung preisgeben würde. 
Aber der preußische Militarismus, ein System der Brutalität, ein Wille 
zur Hegemonie, erst der deutschen, dann der Hegemonie über die ganze Welit, 
ist von allen Militarismen der gefährlichste für die Sicherheit der Welt, 
gefährlich auch für die Rückkehr Deutschlands selber zu einer Entwicklung des 
friedlichen Fortschritts. Den preußischen Militarismus dazu zwingen, daß 
er sich zu den Methoden des Rechts bequemt, das heißt ihn zwingen, sich 
selbst zu zerstören, indem er seinen Existenzgrund verneint. In diesem 
Sinne könnte der Krieg von 1915 der letzte der Kriege sein. Damit er es 
sei, bedürfen die Verbündeten nicht nur des Sieges durch die Waffen, son- 
dern auch des Beistandes der Völker, zunächst des deutschen Volkes selber, 
wenn es endlich aus dem abscheulichen Rausch erwacht, in den es seine 
Regierenden versenkt haben. Möge darum das deutsche Volk nachsinnen 
 
	        
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