Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

962 Stalien. (Mai 20.) 
Unterdessen wird die Kammersitzung aufgehoben. Um 5 Uhr erscheint 
Präsident Marcora wieder im Sitzungssaale, ebenso die Minister. Vor 
dichtgefülltem Hause ergreift Boselli als Berichterstatter der Kommission 
unter lebhaftem Beifall das Wort und erklärt, die Kommission schlage ein- 
stimmig die Annahme des Gesetzentwurfs über die außerordentlichen Maß- 
nahmen für die Regierung vor. Die Gründe dazu lägen auf der Hand, 
denn dieser Gesetzentwurf setze tatsächlich das Siegel auf das Werk der 
Regierung, welche die Stimmung des Vaterlandes als Ratgeberin und das 
Gefühl für nationale Würde als Gebieterin genommen habe. In dieser 
Schicksalsstunde, welche uns in einem einzigen Willen vereinigt, wird das 
Votum der Kammer eine neue feierliche Bestätigung eines unüberwind- 
lichen und sicheren Glaubens an das Recht und an den Ruhm des Vater- 
landes sein. Boselli fügt hinzu, der Augenblick sei gekommen, unser den 
unerlösten Gebieten gegebenes Versprechen zu erfüllen, und hebt das Ver- 
trauen auf die Armee, die Marine und den Herrscher, den Fortsetzer der 
ruhmvollen Ueberlieferungen seiner Familie hervor. Eine stürmische Kund- 
gebung antwortet ihm. Alle Deputierten erheben sich und applaudieren. 
Salandra und die anderen Minister drücken ihm unter neuem Beifall 
die Hand. Das Publikum auf den Tribünen stimmt ein. Unter den Rufen: 
Hoch Italien! Es lebe der König! beglückwünscht auch der Kammerpräsidem 
den Redner. Der Deputierte Barzilai erklärt darauf, jetzt werde sich der 
oft geäußerte Wunsch erfüllen, und schließt, die Kammer, welche der Re- 
gierung umfassende Handlungsfreiheit gebe, habe volles Vertrauen zu ihr. 
Nach Barzilai spricht Turati und begründet ausführlich die ab- 
weichende Meinung der offiziellen Sozialisten. Der Republikaner 
Colajanni verzichtet auf das Wort mit dem Rufe: „Es lebe Italien!“ 
Ciccotti (Sozialist) spricht im Namen der anderen Sozialisten und erklärt, 
als Bürger und als Sozialist glaube er der Aktion der Regierung keine 
tatsächliche oder moralische Hinderung bereiten zu dürfen. Italien befinde 
sich angesichts eines Verteidigungskrieges. Die Sozialisten, in deren Namen 
er spreche, hofften, daß ein erneuertes Europa aus diesem Kriege hervor- 
gehen und daß man zu der so sehr gewünschten Abrüstung kommen werde. 
für wollten den Fortschritt der Zivilisation von seinen Hindernissen be- 
reien. 
Die Diskussion wird geschlossen. In geheimer Abstimmung wird der 
Gesetzentwurf mit 407 gegen 74 Stimmen angenommen. Der Kammer- 
präsident Marcora ergreift hierauf das Wort, während die Minister und 
das Haus sich erheben, und sagt, in dieser feierlichen historischen Sitzung 
habe die Kammer den geheiligten Glauben an die Erneuerung Italiens 
wiedergefunden. Sie eile, ihre Pflicht gegen das Vaterland in dem festen 
Glauben zu erfüllen, daß die Eintracht, die Festigkeit, die Tapferkeit von 
Armee und Marine die Einigkeit des Vaterlandes vollenden würden. Es 
lebe unser Italien! Der Präsident widmet dann dem König einige Worte 
und schließt mit einem Hoch, das von der Kammer mit wiederholtem be- 
geisterten Beifall ausgenommen wird. 
Auf Antrag des Ministerpräsidenten Salandra vertagt die Kammer 
sich auf unbestimmte Zeit. Nach Schluß der Sitzung wird d'Annunzio 
eine große Kundgebung bereitet. Alle Deputierten, die Journalisten und 
das Publikum singen das Mameli--Lied in unbeschreiblicher Begeisterung. 
20. Mai. Das Grünbuch. 
Das Grünbuch umfaßt 77 Aktenstücke aus dem Zeitraum vom 9. De- 
zember 1914 bis 4. Mai 1915. Ein Kommentar des offiziösen „Giornale 
d'-Italia“ teilt diese Sammlung in drei Abschnitte. Hiernach reicht der erste
	        
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