Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

976 Italien. (Juni 2.) 
machung seines guten Rechtes durch die Waffen unfähigen Italien zu tun 
zu haben glaubten, mit einem Italien, das leicht lahm zu legen sei, indem 
man einige Millionen ausgibt und indem man sich durch nicht einzugestehende 
Treibereien zwischen das Land und seine Regierung stellt! (Sehr lebhafter 
Beifall.) Ihre Herrscher und Außenminister sprachen von dem Bündnis, 
das wir kündigten, nachdem sie es tatsächlich brachen, diesem Bündnis, in 
dem Italien so lange Jahre lebte und das Italien gestattete, sich wirt- 
schaftlich zu entwickeln und sein Gebiet zu vermehren. Ich will die Wohl- 
taten dieses Bündnisses nicht leugnen, doch waren die Vorteile nicht ein- 
seitig. Alle Vertragschließenden hatten ihren Teil daran, wir vielleicht nicht 
mehr als andere. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätten die Zentral- 
mächte das Bündnis nicht gewollt und nicht erneuert. War Bismarck viel- 
leicht eine empfindsame und für Italien schwärmende Natur? Waren die 
Prinzen und Minister Oesterreich-Ungarns immer zärtlich zu uns? Man 
muß wissen, wie wir zu unserer einzigen Gebietsvergrößerung, nämlich zu 
Libyen, gelangten. 
Der beständige Argwohn und die aggressiven Absichten Oesterreich-- 
Ungarns gegen Italien sind notorisch. Wir haben hierfür authentische Be- 
weise. Der Generalstabschef Conrad von Hötzendorf hegte immer den Ge- 
danken, daß der Krieg gegen Italien unvermeidlich sei, sei es wegen der 
irredentistischen Provinzen, sei es wegen der Eifersucht Italiens auf das, 
was Oesterreich auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer unternehme. 
Hötzendorf erklärte, daß Italien sich zu vergrößern beabsichtige, sobald es 
bereit sein werde, aber daß es sich allem widersetze, was Oesterreich-Ungarn 
auf dem Balkan unternehmen wolle. Man musse es also niederschlagen, 
um die Hände frei zu haben. Pötzendorf beklagte, daß Oesterreich im 
Jahre 1907 Italien nicht angriff. Der österreichisch-ungarische Minister des 
Aeußern anerkannte selbst, daß in der Militärpartei die Meinung verbreitet 
sei, man müsse Italien durch einen Krieg zerschmettern, weil von diesem 
Königreich die Anziehungskraft auf die italienischen Provinzen der Dopvpel- 
monarchie ausgehe. Durch einen Sieg über Italien und durch seine politische 
Vernichtung würden sich die Frredentisten jeder Hoffnung beraubt sehen. 
Indem man den Augenblick des Kriegsausbruchs, dessen Eintreten man 
mit allen Mitteln beschleunigen sollte, abwarte, sollte man die italienischen 
Provinzen durch strafrechtliche schärfste Maßnahmen und indem man sich 
jedem Wunsche in bezug auf Kulturfragen widersetze, unterdrücken. 
Sehen wir jetzt auf Grund der amtlichen Aktenstücke, wie die Bundes- 
genossen uns in der Unternehmung gegen Libyen halfen. Die vom Herzog 
der Abruzzen gegen türkische Torpedoboote bei Prevesa begonnenen Sec- 
operationen wurden auf schroffe und unduldsame Weise von Oesterreich- 
Ungarn aufgehalten; Aehrenthal benachrichtigte am 1. Oktober unseren Bot- 
schafter in Wien, daß unsere Operationen auf ihn einen peinlichen Eindruck 
machten, daß er ihre Fortsetzung nicht zulassen könne und daß es dringend 
erforderlich sei, ihnen ein Ende zu machen und die nötigen Befehle zu er- 
lassen, damit verhindert werde, daß die Kriegshandlungen in den Gewässern 
der Adria und dem Jonischen Meere sich erneuerten. Tags darauf benach- 
richtigte der deutsche Botschafter in Wien vertraulich unseren Botschafter 
in noch drohenderen Ausdrücken, daß Aehrenthal ihn bat, seiner Regie- 
rung zu telegraphieren, sie möge der italienischen Regierung zu verstehen 
geben, daß diese unmittelbar mit Oesterreich-Ungarn zu tun gehabt hätte, 
wenn sie ihre Seeoperationen in der Adria und im Jonischen Meere fort- 
gesetzt hätte. Die Unruhe in Oesterreich lähmte nicht nur unsere Tätigkeit 
in den adriatischen und jonischen Gewässern, sondern Aehrenthal benach- 
richtigte auch am 5. November den Herzog von Avarna davon, er habe
	        
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