Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Italien. (Dezember 1.) 995 
staltung der Besitzverhältnisse am Adriatischen Meere eng verbundenes 
Schicksal, sowie die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit des albanesischen 
Volkes, dessen ausgesprochene, altehrwürdige Nationalität aus selbstsüchtigen 
Gründen verleugnet worden ist, für Italien von der größten Bedentung 
ist. Für die Wiedererwerbung unserer natürlichen Grenzen und die Er- 
oberung der Pforten Italiens sorgt mit ebenso großer Zähigkeit wie Selbst- 
verleugnung und Schneidigkeit die Tapferkeit der italienischen Truppen. 
Die strategische Verteidigung des Adriatischen Meeres bildet einen anderen 
springenden Punkt in unserer politischen Aktion. Für Italien ist die Schaffung 
einer Lage am Adriatischen Meere, welche die ungünstige Lage unserer Küste 
wettmacht, eine Lebensnotwendigkeit. 
Mit Bezug auf Bulgarien erklärt Sonnino, die friedliche Zuteilung 
Mazedoniens an Bulgarien durch den Vertrag der Balkanstaaten von 1912 
zmmit den großen Zugeständnissen, die Serbien erhielt,) bildet die Grundlage 
des politischen Abkommens, das von dem Vierverband in die Wege geleitet 
worden war. Aber wenn die Politik des Vierverbandes auf eine Einigung 
der Balkanstaaten gerichtet war, so schürte diejenige der Zentralmächte im 
Gegensatz dazu Streitigkeiten und Nebenbuhlerschaften, und unglücklicher- 
weise fanden sie den günstigsten Boden für ihre Arbeit. Die Gefühle des 
Hasses und der Rache, die als Folge des zweiten Balkankrieges zurück- 
geblieben waren, bildeten für unsere Feinde naturgemäß wirksame Hand- 
haben für eine Aktion, über die der Vierverband für den Zweck, den er im 
Auge hatte, nicht verfügte. Anderseits konnte die diplomatische Tätigkeit 
sehr wenig tun gegenüber dem Geisteszustand, der sich in der öffentlichen 
Meinung und bei dieser Regierung infolge der militärischen Ereignisse ge- 
bildet hatte. Es blieb ihre Geistesverfassung beeinflußt vom einzelnen Er- 
eignis, während sie die Mürdigung der Gesamtlage, aus der sich das Ver- 
trauen auf den schließlichen Sieg der Alliierten ergeben mußte, außer acht 
ließen. Die Regierenden in diesem Lande waren einzig von dem Gedanken 
an unmittelbare Wiedervergeltung beherrscht und verloren die größeren und 
wichtigeren Gesichtspunkte der politischen und wirtschaftlichen Unabhängig- 
keit der Völker aus dem Auge. Bulgarien verschmähte die vorteilhaften 
Angebote des Vierverbandes und kehrte seine Waffen gegen Serbien, als 
es sah, daß dieses tapfere kleine Volk von den vereinten Armeen der beiden 
Zentralmächte nach großen kriegerischen Vorbereitungen angegriffen wurde. 
Unter diesen Umständen war der Weg für Italien klar vorgezeichnet. Wir 
erklärten Bulgarien den Krieg zugleich mit unseren Verbündeten, mit denen 
wir auch in den Ausgleichsversuchen ständig einmütig vorgegangen waren. 
So bewährte sich in der Entwicklung der Ereignisse, in der vollen Eintracht 
bei den diplomatischen Bemühungen und Verhandlungen, sowie in dem 
hartnäckig fortgeführten Kampfe der Wassen auf den verschiedenen Kriegs- 
schauplätzen die volle und herzliche Gemeinbürgschaft der Alliierten. 
Kammerpräsident Marcora sagt: Italien beschreibt derzeit viel- 
leicht das schönste und strahlendste Blatt seiner Geschichte seit seiner Wieder- 
erweckung. Die Nation bestätigt auf diese Weise die Voraussagung Glad- 
stones, daß Italien bestimmt sei, eines der bedeutendsten Werkzeuge des 
menschlichen Fortschrittes und der Zivilisation zu sein. Der Redner bringt 
den Aufruf des Königs bei der Uebernahme des Cberbefehls in Erinnerung, 
in dem gesagt war, daß die Stunde der nationalen Wiedervergeltung ge- 
schlagen habe. Das einfache und bescheidene, aber würdige Wort des Königs 
und sein erhabener und großzügiger Geist, der frei ist von Ueberhebung 
und die Achtung auch dem Gegner nicht versagt, der seinerseits so voll von 
beleidigender Anmaßung ist — dieses ehrenhafte und entschlossene Wort 
entflammte die Herzen aller Italiener. In bewegten Worten erwähnt der
	        
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