1104 Rußland. (August 1.)
blick hat der Feind gegen uns ungewöhnlich große Streitkräfte zusammen-
gezogen, welche Schritt für Schritt das Gebiet des Militärbezirks von
Warschau umkreisen, dessen strategische Grenzlinien immer den schwachen
Punkt unserer westlichen Grenze bildeten. Unter diesen Umständen werden
wir dem Feinde vielleicht einen Teil dieser Gegend überlassen und uns
auf Stellungen zurückziehen, wo unser Heer die Wiederaufnahme seiner
Offensive vorbereiten kann. Dies ist das Ende, das das seit 1912 erprobte
Vorgehen krönt. Wir werden vielleicht heute Warschau dem Feind über-
lassen, wie wir seinerzeit Moskau räumten, um den schließlichen Sieg zu sichern.
Der Minister erwähnt die militärischen Vorlagen, die er der Duma
unterbreiten werde, vor allem die Einberufung des Jahrgangs 1916 und
verschiedener Kategorien der Reserve. Der Minister stellt fest, daß dank der
vereinigten Bemühungen der Intendantur und des Ackerbauministeriums
die Verproviantierung der Armee ununterbrochen sich mit vollkommen
günstigen Ergebnissen vollziehe. In keinem vorhergehenden Kriege sei das
Problem der Verpflegung einer ungeheuren Armee so gut gelöst worden.
Die Wirklichkeit habe erwiesen, daß die wirtschaftliche Lage Rußlands durch
den Krieg keineswegs erschüttert sei; denn infolge der guten Ernte herrsche
im Lande wieder Ueberfluß an allen Nahrungsmitteln, und es könne noch
Jahre hindurch den Krieg aushalten. Der Kriegsminister ging dann zu
den so reichen und unerschöpflichen technischen Hilfsmitteln bei den Deut-
schen über und betont, daß es notwendig sei, soweit als möglich Frankreich
und England nachzuahmen, die in dem Aufschwung der Munitionsherstel-
lung ungeheure Erfolge hätten. Der Minister schließt mit den Worten:
Sie sehen, wie der Feind beschaffen ist, den wir bekämpfen. Er muß un-
bedingt und um jeden Preis besiegt werden. Sonst gerät Europa unter
das teutonische Joch. Wir werden, ohne einen Augenblick zu verlieren,
alle Fähigkeiten des Landes zur Entwicklung seiner Verteidigung benutzen.
Der Minister des Auswärtigen Ssasonow hält folgende Rede: Am
Jahrestag des verhängnisvollen Tages, wo im Gegensatz zu unseren Be-
mühungen, den Frieden zu erhalten, Deutschland uns den Krieg erklärte,
der ganz Europa in diesen beispiellosen Brand steckte, ist es nötig, einen
Blick in die Vergangenheit zu tun und ein Gesamtbild der Ereignisse des
vergangenen Jahres zu geben. In diesem Jahre nehme ich hier mit kaiser-
licher Erlaubnis zum drittenmal das Wort. Durch meine früheren Reden
sowie durch den authentischen Briefwechsel des Ministeriums sind Ihnen
die Tatsachen genügend bekannt, die zu dem großen gegenwärtigen Zu-
sammenstoß der Völker führten, und Sie wissen, daß weder Rußland noch
seine Verbündeten die Verantwortung für die zahllosen Leiden tragen, die
den Krieg begleiten. Deshalb werde ich nicht über schon besprochene Dinge
reden. In diesem Augenblick höchster Spannung aller Kräfte, wo wir alle
hier vereint sind mit dem einzigen Ziel, unseren heldenhaften Truppen
siegen zu helfen, ist die Zeit für das begonnene Werk kostbar. Deshalb
werde ich mich darauf beschränken, einen Ueberblick über die gegenwärtige
politische Lage zu bringen, indem ich Ihnen schon von vornherein sage,
daß, wenn Sie nicht die endgültige Lösung der Frage finden, die Sie mit
Sorgen erfüllen, Sie begreifen werden — wie ich es bestimmt annehme —,
wie schwer es mir sein würde, diejenigen Fragen zu berühren, über die
heute noch Verhandlungen schweben!
Wenig Veränderungen haben sich auf dem Gebiet der internationalen
Beziehungen seit meiner letzten Rede ereignet. Nach wie vor ist Rußland
eng mit seinen tapferen Bundesgenossen verbündet und das verwickelte
Werk der vereinten Tätigkeit der getrennten Staaten ist gut organisiert,
denn die Kräfte jedes Staates sind in der besten Weise ausgenutzt, um