Ruhland. (August 2.) 1111
2. Aug. Die zweite Sitzung der Duma ist bemerkenswert durch
einige weitere Reden aus den Reihen der Opposition.
Kawulow (Volkspartei) wendet sich scharf gegen die Regierung, die
es nicht verstanden habe, die Kluft zwischen ihr und dem Volke zu be-
seitigen. Es breite sich eine unpatriotische Stimmung im Lande aus, die
zum Teil aus deutscher Quelle stamme. Man müsse alles tun, um die
Presse zu befreien, damit man die Wahrheit im ganzen Lande hören könne.
Rußland müsse ein verantwortliches Ministerium erhalten.
Der Vertreter der Bauerngruppe, Jefzejew, sagt: Unser Land sehnt
sich nach Wahrheit. Im Januar teilten wir mit, wie die Bauern sich
zum Kriege verhalten. Ich verbrachte mehr als fünf Monate an der Front
und konnte mich überzeugen, daß der russische Soldat hinter dem Feinde
nicht zurücksteht, wenn er nur die Kampfmittel besitzt. Aber was soll er
tun, wenn der Gegner uns mit Geschossen überschüttet und unsere Batterien
dabei schweigen müssen? Im Januar sagte uns der Kriegsminister, daß
alles bei uns herrlich stehe. Aber es verging der März, und es verging
der Sommer, der Feind drängte uns aus Galizien heraus, besetzte ganz
Polen und Litauen, und jetzt erst erfahren wir die Wahrheit, daß wir
keine Munition haben. Jetzt erst erfahren wir, daß uns Gewehre fehlen.
Wenn das Volk seinerzeit die Wahrheit erfahren hätte, stünde der Feind
nicht vor Warschau, Riga und Kowno. In der inneren Politik ist alles
beim alten geblieben. Ebenso wie vor 1000 Jahren war alles in Ruß-
land in Hülle und Fülle vorhanden, aber leider fehlte stets Ordnung und
Organisation. Unser Feind Deutschland hat außer seinen Geschossen und
Maschinengewehren einen besonderen Reichtum, das ist seine herrliche
Organisation.
Abg. Friedmann: Ungeachtet ihrer schwierigen Lage, ungeachtet ihrer
Rechtlosigkeit haben die Juden es verstanden, sich auf die Höhe der Bürger-
pflichten zu stellen und im verflossenen Jahre einen beträchtlichen Anteil am
Kriege zu nehmen. Sie sind in keiner Weise hinter den anderen zurückgeblieben.
Sie haben alle ihre Dienstpflichtigen mobilisiert, nur mit dem Unterschied
gegen die anderen, daß sie auch die einzigen Söhne in den Krieg geschickt
haben. Die Zeitungen haben zu Anfang des Krieges eine beträchtliche Zahl
von jüdischen Freiwilligen gemeldet. Meine Herren, dies waren Freiwillige,
welche nach ihrem Bildungszensus das Recht auf den Offiziersrang gehabt
hätten. Sie wußten, daß sie den Offiziersrang nicht erreichen würden und
sind trotzdem in den Krieg gegangen. Die jüdische Jugend, die wegen der
Prozentnorm im Auslande ihre Bildung suchen muß, ist in die Heimat
zurückgekehrt, als der Krieg erklärt wurde, oder ist in die Armee der
Verbündeten eingetreten. Nicht wenige jüdische Studenten sind bei der
Verteidigung Lüttichs und der anderen Orte der Westfront zugrunde ge-
gangen. Die zionistische Jugend hat, als sie vor der Frage stand, entweder
türkische Untertanen zu werden oder aus Palästina verjagt zu werden, es
vorgezogen, nach Alexandrien zu fahren und in das englische Heer einzu-
treten. Die Juden haben Lazarette eingerichtet. Geld geopfert und haben
an allem Anteil genommen, was die übrigen Bürger getan haben. Viele
Juden haben im Rriege Auszeichnungen erhalten. Vor mir liegt der Brief
eines Juden, der aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt ist. „Ich ris-
kierte mein Leben“, schreibt er, „und wenn ich trotzdem nach Archangelsk
gefahren bin, so ist dies deshalb geschehen, weil ich meine Heimat mehr
liebte als mein Leben und jene amerikanische Freiheit, die ich genoß. Ich
wurde zum Rriegsdienst genommen und verlor meinen linken Arm fast
bis zur Schulter. Man sandte mich nach Kurland. Kaum kam ich in die