Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1228 Grirchenland. (Oktober 4.) 
tretungen. Wie und warum unter Gunaris solche Abtretungen von uns 
verlangt wurden, weiß ich nicht. Als ich jetzt wieder die Regierung über- 
nahm, konnte ich der Kammer mitteilen, daß weder von uns, noch von 
Serbien Abtretungen verlangt werden; die darauf bezüglichen Versprechungen 
an Bulgarien seitens des Verbandes sind zurückgenommen. Ferner ist zu 
erklären, daß ich in der Tat den Verband gefragt habe, ob wir auf Hilfe 
vom Verbande rechnen dürften, falls Serbien und wir gemeinsam angegriffen 
würden. Diese Hilfe wurde zugesagt. Den Vertrag mit Serbien werde ich 
vorlegen, sobald Serbien einverstanden ist. Der Vertrag ist vor dem Kriege 
mit Bulgarien abgeschlossen worden und gilt zehn Jahre. Er verpflichtet 
beide Staaten zu gegenseitiger Hilfe beim Angriff durch einen Dritten. Als 
Serbien von Oesterreich angegriffen wurde, verständigte ich mich mit Paschitsch, 
daß wir Serbien den Rücken decken und gegen Bulgarien kämpfen würden, 
wenn dieses Serbien angreife. Der König war einverstanden. Auch das 
Ministerium Gunaris war der Ansicht, daß der Vertrag noch voll gelte. 
Später scheint es seine Ansicht aber geändert zu haben, denn sonst würde 
Bulgarien kaum mobilgemacht haben. Wir haben nicht nur die ethische Ver- 
pflichtung, den Vertrag zu halten, sondern werden auch durch unser Inter- 
esse dazu gezwungen. Es wäre allerdings traurig, wenn wir dadurch ge- 
nötigt würden, auch gegen Deutschland und Oesterreich zu kämpfen, aber 
wenn wir auf ihre Heere in Serbien treffen, werden wir tun, was unsere 
Ehre verlangt. Zu den Gründen, die für diese Politik sprechen, führe ich 
als wichtigsten noch den hinzu, daß das griechische Volk in den Wahlen 
diese meine Politik gebilligt hat. 
Theotokis antwortet: Diese Politik wird uns nicht nur in den euro- 
päischen Krieg, sondern ins Verderben führen. Mit dieser Politik zwingt 
uns Venizelos an die Seite des Vierverbandes. Dort stehen wir neben 
Rußland, das die Ausbreitung des Slawismus erstrebt; neben Italien, das 
Nord-Epirus, den Dodekanes und selbst Korfu verlangt; neben England, 
das die Abtretungen an Bulgarien zu unserm Schaden erdacht hat: neben 
Frankreich, das allein für uns nichts tun kann. Deshalb bin ich der An- 
sicht, daß Sie, Herr Venizelos, die Neutralität aufrecht erhalten müssen und 
unser Land nicht der Feindschaft zweier Großmächte aussetzen dürfen zur 
großen Gefahr der Zukunft unseres Volkes. 
Venizelos: In bezug auf die Politik des Herrn Theotokis, der Ruß- 
land, Italien und England für Feinde hält, habe ich zu erklären, daß die 
slawische Gefahr nicht russisch, sondern südflawisch ist, und diese haben wir 
abzuwehren. Die italienische Gefahr sah er nicht, als Italien noch zum 
Dreibund gehörte, dessen Freund er war. England war allerdings ein guter 
Freund der Bulgaren, aber es hat auch uns sehr unterstützt in der Frage 
Kretas und der anderen Inseln. So sehe ich die Verbandsmächte an. An 
der Seite der Mittelmächte, die ich wegen ihrer Kulturwerke schätze, sehe 
ich leider die Türkei, mit der wir zwar in guten Beziehungen stehen, deren 
Interessen aber, nicht die natürlichen, sondern die der Jungtürken, den 
unfrigen gerade entgegengesetzt sind. Aus den Gründen, die ich angeführt, 
Herr Theotokis aber nicht widerlegt hat, müssen wir uns auf die Seite des 
Vierverbandes stellen. 
Gunaris antwortet zunächst in bezug auf die Abtretungen, daß Veni- 
zelos selbst öfter an diese Abtretungen gedacht und den Gedanken erst auf- 
gegeben habe, als Bulgarien seine Anleihe in Deutschland abgeschlossen hatte 
und so für den Verband verloren war. Die Idee der Abtretungen ist nicht 
durch Venizelos begraben worden, sondern allein durch ihre verachtungs- 
volle Abweisung von seiten Bulgariens. Sodann spricht er über den Ver- 
trag mit Serbien: Um die Kammer zum Verlassen der Neutralität und
	        
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