Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

1346 Anhang in den Vereinigten Staaten ven RNerdamerika. (Dezember 29.) 
ist gerade der „Ancona“ ungewöhnlich lange Zeit zur Ausschiffung der Passa- 
giere gelassen worden. Unrichtig ist endlich, daß auf den Dampfer, nachden 
er gestoppt hatte, noch mehrere Schüsse (number of shells) abgegeben wurden. 
Der Sachverhalt läßt des weiteren erkennen, daß der Kommandant des 
Unterseebootes dem Dampfer volle 45 Minuten, also mehr als hinreichend 
Zeit gelassen hat, um den an Bord befindlichen Personen Gelegenheit zur 
Ausbootung zu geben. Sodann bewerkstelligte er, als die Leute noch immer 
nicht geborgen waren, die Torpedierung auf solche Art, daß das Schif 
möglichst lange über Wasser bleiben konnte. Dies in der Absicht, die Aus- 
schiffung auf den noch vorhandenen Booten zu ermöglichen. Er hätte, da der 
Dampfer noch weitere 45 Minuten über Wasser blieb, diesen Zweck auch erreicht, 
wenn die Besatzung der „Ancona“ die Passagiere nicht in pflichtwidriger Went 
im Stich gelassen hätte. Bei aller Würdigung dieses auf Rettung der Be- 
satzung und der Passagiere hinzielenden Vorgehens des Kommandanten kam 
die K. u. K. Marinebehörde aber zu dem Schlusse, daß er unterlassen habe. 
auf die unter den Passagieren entstandene, das Ausbooten erschwerende Panik 
und auf den Geist der Vorschrift, daß K. u. K. Seeoffiziere in Not niemand. 
auch dem Feinde nicht, die Hilfe versagen sollen, hinreichend Bedacht zu 
nehmen. Sohin wurde der Offizier wegen Ueberschreitung seiner Instruktionen 
gemäß den hierfür geltenden Normen bestraft. 
Die K. u. K. Regierung steht bei dieser Sachlage nicht an, be züglich der 
Schadloshaltung der durch die Versenkung der Prise betroffenen amerikanischen 
Bürger die entsprechenden Folgerungen zu ziehen, sie muß jedoch in dieser Hin- 
sicht folgendes bemerken: Die Untersuchung über die Versenkung der „Ancona"“ 
konnte selbstverständlich keinen Anhaltspunkt dafür liefern, inwieweit amemka- 
nischen Bürgern ein Anspruch auf Ersatz zuzusprechen ist. Für die Schäden. 
welche durch die zweifellos gerechtfertigte Beschießung des fliehenden Schiftes 
entstanden sind, kann die K. u. K. Regierung wohl auch nach der Ansicht des 
Washingtoner Kabinetts nicht haftbar gemacht werden. Ebensowenig dürfte sie 
für den Schaden einzustehen haben, welcher vor der Torpedierung durch fehler- 
haftes Ausbooten oder durch Kentern der ausgesetzten Boote sich ergeben hat. 
Die K. u. K. Regierung muß annehmen, daß das Washingtoner Kabinen in 
der Lage und gewillt ist, ihr die in dieser Hinsicht erforderlichen und gewiß 
nicht unwesentlichen Informationen zukommen zu lassen. Sollten der Unions- 
regierung jedoch bei etwaigem Fehlen entsprechenden Beweismaterials die 
näheren Umstände nicht bekannt geworden sein, unter welchen die amerikanischen 
Angehörigen zu Schaden gekommen sind, so wäre die K. u. K. Regierung in 
Berücksichtigung des menschlich tief bedauerlichen Vorfalles und von dem 
Munsche geleitet, der Bundesregierung neuerlich ihre freundschaftlichen Ge- 
sinnungen zu bekunden, gerne bereit, über diese Lücke der Beweisführung 
hinwegzugehen und den Ersatz auch auf jene Schäden zu erstrecken, deren 
unmittelbare Ursache nicht festgestellt werden konnte. 
Indem die Kaiserliche und Königliche Regierung mit den vorstehenden 
Ausführungen die Angelegenheit der „Ancona“ wohl als bereinigt anseben 
darf, behält sie sich gleichzeitig vor, die schwierigen völkerrechtlichen F Fragen, 
die mit dem Unterseebootkrieg zusammenhängen, in einem späteren Zeit- 
punkte zur Erörterung zu bringen. 
Der Unterzeichnete hat die Ehre, die Gefälligkeit Seiner Exzellenz des 
Herrn Botschafters der Vereinigten Staaten von Amerika mit der ganz 
ergebensten Bitte in Anspruch zu nehmen, das Vorstehende zur Kenntnis 
der Bundesregierung bringen zu wollen, und benützt zugleich auch diesen 
Anlaß, Seiner Exzellenz den Ausdruck seiner ausgezeichneten Hochachtung 
zu erneuern. Burian, m. p.
	        
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