Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Grsßbrilannien. (Juli 5.) 787 
Eine besondere Schwierigkeit, sagte Haldane, wurde durch die in Deutsch- 
land grassierende fixe Idee geschaffen. Dort gibt es drei große Parteien. 
Zunächst das große Volk, das dem englischen sehr ähnlich ist, aber keinen Anteil 
an der Politik nimmt und jedem Fingerzeig der Regierung folgt. Zweitens 
die Kriegspartei, die alles für den Kampf vorbereitete und das Volk zur 
Anwendung der geschmiedeten starken Waffe zu überreden suchte. Die dritte 
sehr mächtige Partei, der viele Diplomaten und Geschäftsmänner angehören, 
wollte wohl Deutschland sehr stark und blühend sehen, wünschte aber zu- 
nächst nicht den Krieg. Die Kriegspartei hegte den festeingewurzelten Ver- 
dacht, daß England darauf ausging, mit Frankreichs und Rußlands Hilfe 
Deutschland zu zerschmettern, und suchte für diesen Verdacht Begründung 
in jeder englischen Rede, in jedem Zeitungsartikel. Jetzt wird man ver- 
stehen, weshalb ich bestrebt war, in versöhnlichem Tone zu reden. Ich 
wußte ziemlich viel über Deutschland, kannte die Parteien, die ganze Lage 
und den Standort des Pulverfasses. Leider gelang es mir nicht, die fixe 
Idee der Kriegspartei zu bannen, und diese behielt die Oberhand. Ueber 
Belgien und Frankreich machte ich mir keine Kopfschmerzen. Ich erkannte 
vielmehr, daß England um sein Dasein kämpft, und zweifelte niemals im 
geringsten, daß seine Teilnahme am Krieg eine gebieterische Notwendigkeit 
sei. Wären wir draußen geblieben, wir wären bald erledigt gewesen. Im 
Jahre 1912 wurden wir von der besorgniserregenden Lage der Dinge 
unterrichtet, die Presse und die Oeffentlichkeit kannten sie auch, und mir 
fiel die Aufgabe zu, die Einzelheiten festzustellen. Nachdem ich meine 
Kollegen von dem Erfahrenen unterrichtet hatte, entschlossen wir uns sofort 
zum Handeln. Mac Kenna begann mit der Vermehrung der Flotte, und 
Churchill machte sie doppelt so stark wie die deutsche. Mehr hätte die Nation 
nicht tun können. 
Im zweiten Teil seiner Rede suchte Lord Haldane die Vorwürfe zu 
entkräften, die ihm als Kriegsminister gemacht wurden. Unter drei Mög- 
lichkeiten hätte das Reichs-Verteidigungskomitee zu wählen gehabt: Ein 
aufs sorgfältigste ausgebildetes Berufsheer, ergänzt durch Territorials, ein 
Heer für die Verteidigung des eigenen Landes auf der Grundlage der 
Dienstpflicht und ein Zweimillionenheer mit zweijähriger Dienstzeit. Das 
Komitee habe von der zweiten Möglichkeit nichts wissen wollen und die 
Uebergangszeit bei Einführung der dritten gefürchtet... Hätten wir vor 
15 Jahren an alles gedacht, dann würden wir es heute nicht so schwer 
haben. Als ich aus dem Kriegsministerium schied, war genügend Munition 
vorhanden. Im Oktober aber wußte die Regierung schon, daß die Muni- 
tionsfrage gefährlich wurde. Es wurde ein Ausschuß des Kabinetts ein- 
gesetzt, von dem auch mein hervorragender Freund Llond George Mitglied 
war. Dieser gab große Aufträge aus. Wären die Austräge ausgeführt 
worden, so hätten wir genug Munition gehabt. Aber Kapital und Arbeit 
waren in England nicht organisiert. Es ist eine gefährliche Neigung, wenn 
immer nach einem Sündenbock gesucht wird. Oberst Donop, dem die ganze 
Schuld wegen der Munitionsversorgung zugeschoben wird ss. unterm 2. Julil, 
ist ein außergewöhnlich fähiger Mann und fast unersetzbar. Die jetzige 
Schwierigkeit ist eben begründet in den nationalen Eigentümlichkeiten der 
Engländer. Deutschland kann wahrscheinlich allein durch Zermürbung über- 
wunden werden. In dieser Beziehung leisten die Franzosen schon Vorzüg- 
liches und die Russen viel mehr, als allgemein angenommen wird. Mit 
einer Invasion muß immer noch gerechnet werden, wenn auch die Marine 
wohl mit ihr fertig werden wird. 
(Vgl. die Erwiderung der „Nordd. Allg. Ztg.“ auf den ersten Teil der 
Rede Lord Haldanes unter Deutsches Reich, 10. Juli.)
	        
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