Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

Ers#britannien. (Juli 9. 10.) 791 
wir der Gefahr in die Augen sehen. Es ist nicht nötig, die Gefahr zu 
übertreiben, aber es wäre unberechtigt, wollten wir ihr Bestehen leugnen. 
9. Juli. (Unterhaus.) Die Registrierungsbill wird in 
dritter Lesung angenommen. 
10. Juli. (London.) In der Guildhall findet eine große 
Versammlung zugunsten der Truppenanwerbung statt, bei der 
mehrere Minister sprechen. 
Lord Kitchener: Früher habe es geheißen, man brauche zum Krieg- 
führen Geld, Geld und nochmals Geld, heute variiere man den Satz dahin, 
daß man sage, man brauche Leute, Material und Geld. Um neues Geld 
für die Kriegführung zu schaffen, habe die Regierung eine neue Anleihe 
ausgenommen. Den Bedarf an Material zu decken, sei das Ministerium 
für Munitionsbeschaffung ganz energisch bemüht. Vor allem aber komme es 
darauf an, die Lücken im Heer auszufüllen. Man brauche mehr Leute und 
immer mehr, bis der Feind am Boden liege. Alle Gründe, die ihn im 
August sagen ließen, daß es ein langer Krieg sein werde, gälten auch heute. 
Die Lage sei unvergleichlich besser als vor zehn Monaten, aber mindestens 
ebenso ernst als damals. Der Anfang des Krieges fand England in seiner 
normalen militärischen Lage. Neue Heere konnten nur allmählich gebildet 
werden in dem Verhältnis, wie die Ausrüstung verfügbar war. Diese 
Schwierigkeit ist jetzt überwunden. Die in der Ausbildung befindlichen 
Truppen können mit ausreichenden Waffen und Material versehen werden. 
Ebenso ist jetzt für die Unterkunft und die Kleidung gesorgt. Zetzt ist eine 
starke Rekrutierung vonnöten, zumal eine große Armee großer Reserven 
bedarf. Die Zeit ist gekommen, wo mehr Soldaten gebraucht werden, um 
die Erfordernisse an Truppen über See zu sichern und eine Reserve aus- 
zubilden. Wenn die Negistrierung sertig ist, wird man an alle wehrbaren 
Männer herantreten mit Hinblick auf ihren Eintritt in die Armee. Die 
Rekrutierung muß mit großem Nachdruck geschehen. Kitchener schloß mit 
einem Appell an alle Wehrfähigen, sich sofort zum Eintritt in die Armee 
zu melden. Im Leben eines jeden Mannes gibt es, wie man zu sagen 
pflegt, eine entscheidende Stunde, die alle früheren Erfahrungen über den 
Haufen werfe und nach der sich alles für die Zukunft bestimme. Für jeden 
einzelnen Briten sowohl wie für die nationale Existenz Großbritanniens 
hat diese feierliche Stunde geschlagen. Man muß die Gelegenheit beim 
Schopfe ergreifen. Es handle sich darum, jetzt und sofort oder niemals. 
Jeder Mann müsse sehen, daß England nichts scheue und vor nichts zurück- 
schrecke, wenn es seine volle Wucht für den Ansturm einsetze, der die Sache 
von Englands Ehre und Englands Freiheit zum Sieg führen solle. 
Carson (Ire): Kitchener besitze das absolute Vertrauen des ganzen 
Kabinetts und der Nation. Es heiße dem Lande einen schlechten Dienst 
erweisen, das Vertrauen in Kitchener zu erschüttern. Die Nation sei ent- 
schlossen, den Krieg zu gewinnen, aber es stehe eine Herkulesarbeit bevor. 
Das Freiwilligensystem stehe jetzt auf der Probe. Wenn es versage, so 
möge niemand glauben, daß man zögern dürfte, die Wehrpflicht einzuführen. 
Solange ein feindlicher Soldat auf belgischem, französischem oder russischem 
Boden stehe, solange könne kein Patriot an Frieden denken. 
Lord Derby: Wenn die Fragesteller im Unterhause auf dem Hofe 
erschossen würden, so würde das eine heilsame Wirkung ausüben. Die lUr- 
sachen, welche die jungen Leute davon abhielten, sich anwerben zu lassen, 
seien Schüchternheit und die Unbilligkeiten des herrschenden Systems, be-
	        
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