Die ãsterreitisq ·angarise Menarthie. (Juni 12. - 16.) 97
nur darauf beziehe, was die Allerhöchste Thronrede gesagt hat, sei es mir
gestattet, einige Worte über die innere Politik und die wichtigsten wirt-
schaftlichen und sozialen Fragen hier vorzubringen.
Hohes Haus! Eine lange Friedensperiode hatte im öffentlichen Bewußtsein
die grundlegende Bedeutung, die der Kraft, Geschlossenheit und Aktionsfähigkeit
des Staatsganzen für alle Teile, ja für jeden einzelnen Staatsbürger zukommt,
einigermaßen in den Hintergrund treten lassen, partikulare und nationale
Bestrebungen schoben sich vor und suchten Verwirklichung mit einem Ungestüm,
das die Notwendigkeiten der Gesamtheit mehr und mehr außer acht ließ.
Ohne Orientierung auf die höhere Einheit, in deren Rahmen sie in Einklang
gebracht werden können, gerieten sie untereinander in schroffen Widerspruch.
Statt sich wechselseitig zu fördern und das Ganze zu stärken, neutralisierten
sich die innerpolitischen Kräfte. Unter solchen Aspekten gelangte die letzte
Session des Reichsrates zum Abschlusse. Seither hat der Weltkrieg die
nationalen Leidenschaften in ihren Tiefen aufgewühlt, und diese Brandung
zittert in den Stimmungen auf einzelnen Seiten des Hauses nach, ist aus
einer Reihe von Erklärungen herauszufühlen, die in der Eröffnungssitzung
abgegeben worden sind. Es mag aus diesem Zusammenhange heraus be-
greiflich erscheinen, wenn auch diesmal nationale und autonomistische
Sonderwünsche zum Ausdrucke gebracht wurden, ja wenn es sogar mit
noch größerer Vehemenz und Einseitigkeit als sonst geschah. Aber die Lehre
dieses Krieges ist wahrlich eine andere. Die Völker Oesterreichs haben in
keinem Augenblicke der Geschichte ihre unauflösliche Zusammengehörigkeit
machtvoller zu vertreten, ihren geschlossenen Staatswillen, ihre siegreiche
Kraft ig Abwehr und Angriff mit elementarerer Wucht zu entfalten vermocht
als in dem Weltkampf unserer Tage. (Zustimmung.) Die festen Grundlagen
des Reiches, die aus den politischen Wirren der letzten Jahre glücklicher-
weise unversehrt hervorgegangen waren, haben sich als die unerschütterlichen
Träger einer beispiellosen, von Freund und Feind bewunderten Machtfülle
erprobt. Eine Zeit steht bevor, wo die Nationen der Welt, sich von der
Furchtbarkeit der Verwüstungen Rechenschaft gebend, ihr Aeußerstes leisten
werden in einem Wettstreit um die friedlichen Entwicklungsmöglichkeiten
der Zukunft. Stark wie Oesterreich in diesem Kriege war und #ist, muß es
auch im Frieden bleiben, wenn es in jenem Wettstreite nicht zu kurz
kommen soll. Nur ein festgefügtes, kraftvolles, gesundes Staatswesen wird
den Anforderungen der Zukunft dauernd gerecht zu werden vermögen.
Darum darf an jenen voll bewährten Grundlagennicht gerüttelt
werden. Die Regierung muß vor allem gegen die Erörterung von poli-
tischen Zusammenhängen, die in die Hoheitssphäre verbündeter Mächte oder
in die des anderen Staates der Monarchie hinübergreifen, nachdrücklich
Verwahrung einlegen. (Zustimmung.) Wenn in einer Reihe von Deklara-
tionen der Eröffnungssitzung (s. S. 82 ff.) das Bekenntnis zum Staate
nicht in jener deutlichen Weise hervorgetreten ist, wie ich es nach fast drei
Jahren Krieges und in der Stunde erhofft hatte, in welcher das Parlament
nach mehrjähriger Ausschaltung wieder zusammentrat, so mag der Grund
vielleicht in dem nationalen Reizungszustande zu suchen sein, den ich früher
erwähnt. Wäre es anders — ich glaube, die Völker Oesterreichs würden
es nicht verstehen. (Zustimmung.) Vor allem aber würden es diejenigen
nicht verstehen, die, ohne Unterschied der Nationalität, an den Fronten ihr
Herzblut für Oesterreich einsetzen. (Lebh. Beif. und Händeklatschen.) Auch
die weitgesteckten nationalen Zukunftswünsche sind wohl auf jene Stimm-
ungen zurückzuführen und in diesen die Ursache zu finden, daß in dem
Streben nach dem notwendigen Ausgleich zwischen Teil und Ganzem das
Ganze wenig Berücksichtigung fand. Aber auch auf den ersten Blick zeigt
Europeischer Geschichtskalender. LVIII# 7