KNußland. (März 11.—14.) 653
den Wünschen des Volkes entgegenkommt und sein Vertrauen genießt.“"
Der Vollziehungsausschuß stützte sich auf die in Aufruhr befindliche Be-
völkerung der Hauptstadt und auf die Garnison von Petersburg, die sich
mehr als 30000 Mann stark vollständig mit den Aufständischen vereinigte,
verhaftete alle Minister und steckte sie in das Gefängnis. Die Duma er-
klärte das Kabinett als nicht bestehend. Heute, am dritten Tage des Auf-
standes, ist die ganze Hauptstadt, in der die Ordnung schnell wiederkehrt,
in der Gewalt des Vollziehungsausschusses der Duma und der Truppen,
die sie unterstützen. Der Abg. Engelhardt, Oberst im Großen Generalstab,
wurde vom Ausschuß zum Kommandanten von Petersburg ernannt. Gestern
abend richtete der Ausschuß Aufruse an die Bevölkerung, an die Truppen,
Eisenbahnen und Banken, in denen er diese aufforderte, das gewöhnliche
Leben wieder aufzunehmen. Der Abg. Gronski wurde vom Ausschuß der
Duma mit der vorübergehenden Leitung der Petersb. Tel.-Ag. beauftragt.
Ein völlig genaues Bild der Petersburger Ereignisse ist aus den
gleichzeitigen, sich teilweise widersprechenden Zeitungsberichten, die zu-
meist auf engl. Korrespondenten zurückgehen, nur schwer zu gewinnen. Eine
eingehende unparteiische Schilderung hat auf Grund authentischen Materials
ein guter Kenner russ. Verhältnisse in der „Köln. Ztg.“ (Nr. 507 und 508
v. 26. Mai 1917) veröffentlicht.!) Unter Zugrundelegung dieser Darstellung
ergibt sich für die Staatsumwälzung folgender Verlauf: In der ersten
Märzwoche gab es bereits überall Ausstände und Straßenumzüge; in den
Kasernen verschiedener Regimenter wurden regelmäßig große Versamm-
lungen abgehalten, an denen auch Massen von Arbeitern teilnahmen. Am
8. März erklärte eine kleine sozialistische Gruppe, über deren Zusammen-
setzung wir nichts wissen, den Gesamtausstand, doch wurde dieser Beschluß
zunächst nur von einigen Fabriken und von einem Teil der Angestellten
der Straßenbahn ausgeführt. Dagegen gab es große Kundgebungen mit
der Forderung nach Brot. Am 9. kam die Lebensmittelkrise auch in der
Dumo zur Sprache (s. S. 651 f.). Unterdessen dehnte sich der Ausstand weiter
aus, der Verkehr stockte völlig und die Zeitungen konnten nicht mehr er-
scheinen. Am 10. wogten bereits vom frühen Morgen an große Massen
erregten Volkes durch die Straßen. Die Regierung beschloß jetzt tatkräftig
einzugreifen und zerstreute, namentlich mit Hilfe der im Hinterhalt auf-
gestellten Gendarmerieabteilungen, verschiedene Umzüge. Das Schießen aus
dem Hinterhalt erbitterte jedoch nur die Volksmassen, imponierte ihnen
aber nicht. Noch am selben Abend traten überall die sozialistischen Organi-
sationen, Arbeiterverbände und, wie es scheint, auch verschiedene Verbände
aus bürgerlichen Kreisen, unabhängig voneinander zu Sitzungen zusammen
und beschlossen, daß jedes Schwanken jetzt aufhören müsse; der Augenblick
müsse ausgenutzt werden, weil sonst Gefahr bestehe, daß die ganze Bewegung
führerlos im Sande verlaufe und die Hoffnung auf einen Aufstand für
lange aufgegeben werden müsse, daher heiße es jetzt: von morgen an beginnt
der Gesamtausstand und bewaffnete Aufstand! Die Versuche der Sozialisten,
den Block der Duma für dasselbe Vorgehen zu gewinnen, scheiterten aber
noch. In einer Sitzung der Vertreter der Blockparteien in der Nacht vom
10. auf den 11. wurde nur beschlossen: Die Regierung, die sich mit dem
Blute des Volkes befleckt hat, darf nicht mehr vor der Duma erscheinen,
mit dieser Regierung bricht die Duma für immer. #
Am 11. März, dem ersten Tage des bewaffneten Aufstandes, traten
1) Eine vorzügliche Gesamtdarstellung der inneren politischen Entwicklung Rußland=
vom Ausbruch der Revolution bis zum Staatsstieich der Maximalisten gibt A. Frhr. v.
Frevtagh-Loringhoven in seiner „Geschichte der russ. Revolution“ Bd. 1 (J. F. Lehmanns
Verlag, München).