Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

212 Grohbbritannien. Aug. 23.) 
sich so wertvoll erwiesen, daß das Kabinett sich entschlossen hat, den Verkehr 
zwischen den verschiedenen Regierungen des Reiches künftighin inniger zu 
gestalten. Daher sollen in Zukunft die Premierminister der Dominien als 
Mitglieder des Reichskriegskabinetts das Recht haben, unmittelbar mit dem 
Premierminister Englands in Kabinettsangelegenheiten zu verhandeln. Ferner 
soll jedes Dominion das Recht erhalten, einen Gesandten besuchsweise oder 
auch dauernd in London zu halten, der den Sitzungen des Reichskriegs- 
kabinetts beiwohnen soll, in denen die Premierminister selbst nicht zugegen sein 
können. Diese Sitzungen sollen in regelmäßigen Zwischenräumen stattfinden. 
Diese Beschlüsse bewirken eine bedeutungsvolle Hebung der staats- 
rechtlichen Stellung der Dominien gegenüber London. Bisher mußte 
sich die Regierung jedes Dominions auf dem Instanzenweg über das Lon- 
doner Kolonialamt an den engl. Premierminister wenden. Nunmehr kommt 
das Kolonialamt als Zwischeninstanz in Fortfall. Hierdurch soll die Gleich- 
stellung der Premierminister der britischen Reichsteile angedentet werden 
und insofern ist eine von britischen Imperialisten in Uebersee häufig erhobene 
Forderung erfüllt, daß nämlich die australischen, neuseeländischen, kanadischen 
und südafrikanischen Nationen als solche Anerkennung und Gleichstellung 
mit denen des Mutterlandes finden sollten. Das Reichskriegskabinett in 
seiner nunmehrigen Form ist nichts anderes als eine Art Bundesrat und 
gewissermaßen ein Vorläufer für die bundesstaatliche Organisation des 
engl. Mutterlandes. 
23. Aug. Lord Cecil zur Rede Dr. Solfs. 
Lord Robert Cecil spricht sich zu einem Vertreter des „Reuterschen 
Büros"“ über die Rede des Staatssekretärs Dr. Solf (s. Tl. 1 S. 254 ff.) u. a. 
folgendermaßen aus: Von einem Gesichtspunkt aus bedeutet sie einen großen 
Fortschritt, denn sie unterscheidet sich im Tone von allem, was bisher von 
deutscher Seite gekommen ist. Wenn sie aufrichtig ist (das „Wenn“ muß 
man sehr groß schreiben), so ist es der erste Schritt zurück zur geistigen 
Gesundheit. Solf gab die erstaunliche Erklärung ab, daß die Alldeutschen 
keinen Einfluß auf die Regierung haben, und das unmittelbar, nachdem 
Kühlmann entlassen wurde, weil er mit den Alldeutschen Streit hatte. Die 
Wendung über Belgien, die Solf gebrauchte, geht sehr viel weiter als 
alle früheren Aeußerungen. Die Worte „Wir beabsichtigen nicht, Belgien 
in irgendeiner Form zu behalten“ usw. sind, so weit sie gehen, sehr viel 
befriedigender als irgendeine frühere Aeußerung, wenn man davon absieht, 
daß Solf in diesem Zusammenhang sagte: „Der Kanzler habe letzten Monat 
erklärt usw.“ Der Kanzler hatte eine Erklärung sehr allgemeinen Charakters 
abgegeben, die er hinterher zu ändern gezwungen wurde. Wenn also Solfs 
Erklärung nur eine Paraphrase der früheren Bemerkungen des Reichskanzlers 
ist, so bedeutet sie tatsächlich sehr wenig. Außerdem enthält sie kein Ver- 
sprechen der Wiederherstellung oder der Sicherheit für die Zukunft. Wenn 
aber Solfs Erklärung unabhängig von der des Kanzlers zu betrachten ist, 
so scheint sie mir einen Fortschritt zu bedeuten. Die Aeußerungen des 
Kolonialsekretärs über den Brest-Litowsker Frieden scheinen mir der 
originellste Teil seiner Rede zu sein. Tatsächlich bezeichnete er den Frieden 
als eine zeitweilige Maßregel zu dem Zweck, unabhängige Staaten auf der 
Grundlage der Nationalität zu errichten. In Wirklichkeit besteht kein Grund 
für diese Behauptung. Zum ersten Male hören wir von dem Brester Frieden 
als von etwas Vorläufigem. Er ist stets als die erste Frucht des Krieges 
behandelt worden. Zweitens liegt kein Grund vor, es als Teil der deutschen 
Politik an usehen, wirklich unabhängige Staaten zu errichten. Im Gegenteil, 
als eine Abordnung aus Estland und anderwärts, die hauptsächlich aus
	        
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