Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

508 Veleu. (Okt. 1. 6.) 
wegen irgendein Aufschub in der Bildung des neuen Kabinetts eintrete, 
und fügt hinzu, daß sein Entschluß unwiderruflich sei. 
4. Okt. Briefwechsel zwischen dem Regentschaftsrat und dem 
Generalgouverneur v. Beseler betr. Ubergang der Verwaltung. 
Der Regentschaftsrat richtet an den Generalgouverneur folgendes 
Schreiben: In Beantwortung des Briefes Ew. Exz. v. 28. Sept. haben wir 
die Ehre, folgendes mitzuteilen: Die durch Ew. Exz. zur Ueberweisung an 
die poln. Regierung bestimmten Verwaltungszweige sind von so geringer 
Wichtigkeit und Bedeutung, daß sich die Frage erhebt, ob sie überhaupt die 
Benennung von Verwaltungszweigen verdienen. Außerdem hat Ew. Exz. 
dies abhängig von Vorbehalten gemacht, die weder den uns kraft des Patents 
v. 12. Sept. 1917 als dem Königreich Polen zuerkannten Charakter noch der 
Würde der poln. Regierung entsprechen. In Anbetracht dessen, daß wir un- 
erschütterlich auf dem Grundsatz des sofortigen Aufbaues des poln. Staates 
stehen, müssen wir entschieden fordern, daß der poln. Regierung Verwaltungs- 
zweige in möglichst weitem Umfange überwiesen werden. Die von Ew. Exz. 
aufgestellten Bedingungen aber lehnen wir entschieden ab. Wir betonen 
außerdem, daß der von Ew. Exz. in den oben erwähnten Fragen ein- 
genommene Standpunkt unerwünschte Folgen in der Entwicklung der wei- 
teren Beziehungen zwischen dem poln. Staate und dem Deutschen Reiche 
nach sich ziehen muß. 
Generalgouverneur v. Beseler antwortet am 7. Okt.: Ich erhielt 
das geschätzte Schreiben des hohen Regentschaftsrates v. 4. d. M. und habe 
die Ehre, darauf höflichst zu erwidern, daß ich in Würdigung der dar- 
gelegten Gesichtspunkte beschlossen habe, nicht länger auf den in meinem 
Schreiben v. 28. Sept. erwähnten, aus juristischen Erwägungen entsprungenen 
Bedingungen zu bestehen. Einen solchen Standpunkt einzunehmen, ermög- 
lichten mir zu meiner besonderen Befriedigung die in der heutigen Depesche 
des deutschen Reichskanzlers an den Regentschaftsrat enthaltenen Grund- 
sätze. Ich bitte den Regentschaftsrat höflichst, die poln. Regierung zu be- 
auftragen, mir möglichst umgehend ausführliche Vorschläge über den Um- 
fang und den Zeitpunkt der Uebernahme von Verwaltungszweigen, die sie 
wünscht, vorzulegen. Die wohlwollende Haltung, die ich selbst, wie ich meine, 
immer gegenüber dem hohen Regentschaftsrat eingenommen habe, wird, so 
hoffe ich, günstig auf den weiteren Ausbau des poln. Staates und des gegen- 
seitigen, auf Verständigung gestützten Vertrauens einwirken. 
6. Okt. Aufruf des Regentschaftsrates. 
Der Regentschaftsrat erläßt an das poln. Volk einen Aufruf, in 
dem betont wird, daß in dieser Stunde der Wille des poln. Volkes klar, 
entschieden und einmütig sei. Unter Hinweis auf die von Wilson kund- 
gegebenen allgemeinen Friedensprinzipien, die jetzt von der ganzen Welt 
als Grundlage für eine neue Einrichtung des Zusammenlebens der Völker 
angenommen worden seien, heißt es: In bezug auf Polen führen diese 
Prinzipien zur Schaffung eines unabhängigen Staates, der alle poln. 
Gebiete umfaßt, mit Zugang zum Meere, mit politischer und wirtschaftlicher 
Unabhängigkeit, wie auch mit territorialer Integrität, was durch internationale 
Verträge garantiert werden wird. Um dieses Programm zu verwirklichen, 
muß das poln. Volk wie ein Mann auftreten und alle Kräfte anfpannen, 
damit sein Wille von der ganzen Welt verstanden und anerkannt werde. 
Zu diesem Zwecke bestimmen wir: 1. Den Staatsrat aufzulösen; 2. sofort 
eine aus Vertretern der breitesten Schichten des Volkes und der politischen 
Richtungen zusammengesetzte Regierung zu berufen; 3. dieser Regierung die
	        
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