I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 56. 57. 58. 163
B. Die Regentschaft (Reichsverwesung) ist eine unvollkommene Art der Thronfolge, indem
der Regent die Befugnisse, welche das Monarchenrecht gewährt und zwar als eigene,
nicht als aus fremdem Willen abgeleitete besitzt, aber sie in den Namen und nur
auf so lange auszuüben hat, als das Bedürfniß der Regentschaft dauert. Zur Klar-
stellung des Begriffs sind ins Auge zu fassen:
1. die Gründe des Eintritts der Regentschaft;
2. die Berufung zur Regentschaft;
3. die staatsrechtliche Stellung des Regenten;
4. die Beendigung der Regentschaft.
1. Die Gründe des Eintritts der Regentschaft.
Die Verfassungsurkunde führt als Gründe an:
a) Der König ist minderjährig, d. h. hat das achtzehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet. Hierüber siehe Art. 54, oben S. 155.
b) Der König ist sonst dauernd verhindert, selbst zu regieren. Es ist rechtlich
gleichgiltig, ob die Behinderung sogleich beim Thronanfalle vorhanden ist oder erst wäh-
rend der Regierung des Königs eintritt. Der Begriff „dauernd“ ist unbestimmt; es ist
nicht in jedem Falle erforderlich, daß die Verhinderung längere Jahre dauert oder gar
eine lebenslängliche ist, vielmehr kann selbst eine voraussichtlich bald vorübergehende
Verhinderung den Eintritt der Regentschaft fordern, wenn unausschiebbare Geschäfte
z. B. die Einberufung des Landtages (Art. 51, 76, 99), drängen und der Monarch
durch seinen körperlichen oder geistigen Zustand sogar an der Ernennung eines Stell-
vertreters verhindert ist. Diese sonstigen Gründe der Verhinderung sind von der Ver-
fassungsurkunde nicht speziell benannt. Unzweifelhaft gehören dahin schwere körperliche
und geistige Gebrechen, welche zur Regierung unfähig machen, ebenso langdauernde Ab-
wesenheit des Königs, besonders eine gezwungene, z. B. Kriegsgefangenschaft, wenn der
König bezüglich der Ausübung der Staatsgewalt während seiner Abwesenheit keine Vor-
sorge getroffen hat und auch nicht treffen kann.
Jc) Wenn der letzte Throninhaber ohne successionsfähige Descendenz verstirbt,
aber eine schwangere Wittwe hinterläßt, bezw. wenn der nächstberufene Agnat vor dem
letzten Throninhaber mit Hinterlassung einer noch beim Tode des Letzteren schwangeren
Wittwe verstirbt, so ist die Frage, wer der Nächstberechtigte zur Succession sei, so lange
zweifelhaft, bis die wirklich erfolgte Geburt über Leben und Geschlecht Gewißheit giebt.
Bis zur Erlangung dieser Gewißheit hat ein Regent die Regierung zu führen. Dieser
Fall der Regentschaft ist zwar in der Verfassungsurkunde nicht besonders aufgeführt,
jedoch ein FPlbstverständlicher, da der foetus in utero durch sein Dasein die Thron-
besteigung eines anderen Agnaten hindert, aber nicht selbst regieren kann, während doch
das Land inzwischen regiert werden muß.
Ob einer dieser Gründe vorhanden, folglich die Regentschaft nothwendig ist, hat
der Landtag zu entscheiden. Bezüglich der Regentschaft propter minorem aetatem und
ventris nomine kann, wenn die Minderjährigkeit und die Schwangerschaft erweislich sind,
die Nothwendigkeit der Regentschaft von dem Landtage nicht verneint werden. Weil
Art. 56 nicht unterscheidet, spricht v. Rönne (Bd. 1 8 47 S. 181/182 Anmerk. 6) dem
Landtage das Recht zu, zu beschließen, daß ungeachtet der Minderjährigkeit des Königs
eine Regentschaft nicht nothwendig sei, also daß der noch nicht achtzehnjährige König
dennoch selbst zu regieren berechtigt sein solle. Aber diese Ansicht kann für zutreffend
nicht erachtet werden. Die Verfassungsurkunde selbst knüpft die Regierungsfähigkeit des
Souveräns an die Erreichung eines bestimmten Alters, und nicht ein einfacher Beschluß
der Landstände, sondern nur eine von diesen beschlossene und vom Regenten genehmigte
Verfassungsänderung könnte den minderjährigen Monarchen schon vor dem verfassungs-
mäßigen Volljährigkeitstermin für volljährig erklären (vergl. Art. 54 Anmerk. A. Abs. 4,
oben S. 155). Ein Selbstversammlungsrecht hat der Landtag auch hier nicht (Art. 51
Anmerk. A., oben S. 145), sondern er ist durch den Agnaten bezw. das Staats-
ministerium zu berufen und hat alsdann in einer vereinigten Sitzung beider Kammern
seinen Beschluß zu fassen. Wird die Nothwendigkeit verneint, so ist die bereits provi-
sorisch eingeleitete Regentschaft ohne Weiteres — nicht rückwärts — dadurch beseitigt.
2. Dee Berufung zur Regentschaft.
Im Gegensatz zur Ernennung eines Stellvertreters ist die Berufung zur Regent-
schaft unabhängig von jeder Disposition, insbesondere jeder testamentarischen Verfügung
des letzten regierungsfähigen oder des jetzigen regierungsunfähigen Sonveräns. Aller-
dings ist es, wie es auch 1858 geschah, nicht ausgeschlossen, daß der Regent mit dem
erklärten Willen des wenn auch an der eigenen Regierung dauernd verhinderten, doch
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