194 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62.
finden und die Volksfreiheit eine künftige Stütze. Aber auf der anderen Seite darf es
die Würde der Staatsämter nicht dem Parteihasse und der Parteileidenschaft zum Opfer
bringen und darf nicht die leitenden Staatsmänner daran hindern, alles das zu thun,
was die Staatswohlfahrt gebieterisch verlangt.
Titel V.
Von den Kammern.
Artikel 62.
Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König
und durch zwei Kammern ausgeübt.
Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu
jedem Gesetze erforderlich.
Finanzgesetzentwürfe und Staatshaushaltsetats werden zuerst der
Zweiten Kammer vorgelegt; letztere werden von der Ersten Kammer
im Ganzen angenommen oder abgelehnt.
A. Gesetz, betreffend die Abänderung der Verfassungsurkunde vom 31. Ja-
muar 1850, in Ansehung der Benennung der Kammern und der Beschluß-
fähigkeit der Ersten Kammer. Vom 30. Mai 1855. (Ges.-Samml. S. 316.);
Wir Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden, König von Preußen 2c.
verordnen, unter Zustimmung der Kammern, was folgt:
§ 1.
Die Erste Kammer wird fortan das Herrenhaus, die Zweite Kammer das
Haus der Abgeordneten genannt.
2.
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(unten Anmerk. A. zu Art. 80).
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem
Königlichen Insiegel.
Gegeben Sanssouci, den 30. Mai 1855.
(L. S. Friedrich Wilhelm.
v. Manteuffel. v. d. Heydt. Simons. Raumer. v. Westphalen.
v. Bodelschwingh. Graf v. Waldersee. Fär“ den Minister für die landwirth-
schaftlichen Arbeiten: v. Manteuffel.
Die Kollektivbezeichnung „Landtag“" ist weder durch die Verfassungsurkunde, noch
durch ein Spezialgesetz sanktionirt, aber seit 1855 gebränchlich.
B. Gesetz ist der Ausspruch des Staates, daß Etwas Recht sein soll. Regelmäßig enthält
das Geset eine allgemeine Rechtsnorm, welche für alle Fälle zur Anwendung kommen
soll, die der betreffenden Rechtsnorm untergeordnet werden können. Wer die Befugniß
bobe, im Namen des Staates jenen Ausspruch zu thun, also Gesetze zu erlassen, ist eine
rage, welche nicht nach allgemeinen Gründen, sondern nur nach dem besonderen Rechte
jedes einzelnen Staates beantwortet werden kann. In Preußen steht, wie die Vollzugs-,
so auch die Gesetzgebungsgewalt dem Könige zu (Art. 13 Anmerk. A., oben S. 123),
aber der König i !7 an die Zustimmung der beiden Kammern gebunden. Ein Gesetz
kann vom König nur erlassen werden, wie es gewöhnlich im Eingang der Preußischen
Gesetze heißt, „mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtages der Monarchic."“
Nur dies besagt der dem Auschein nach allerdings den Landtag zum Mitgesetzgeber er-
nennende Abs. 1
Außerdem verweist die Verfassungsurkunde in einer erheblichen Anzahl von Ar-
tikeln auf die besondere Regelung, die Ausführung durch ein Gesetz. Werden diese Ar-
tikel näher geprüft, so enthalten verschiedene der in ihnen vorbehaltenen oder verheißenen
Gesetze, z. B. das die Grenzen des Preußischen Staatsgebietes verändernde Gesetz in
Art. 4, das die beiden obersten Gerichtshöfe zu einem einzigen vereinigende Gesetz in
Art. 116 keine objektiven Rechtssätze. So ergiebt sich, daß außer solchen Gesetzen, welche