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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62.
wird durch Folgendes zur Gewißheit. Der Gegensatz zwischen Gesetz im materiellen und im
formellen Sinne beruht darauf, daß in dem konstitutionellen Staate der Gegenwart Alles, was
der Zustimmung der Volksvertretung bedarf, Gesetz genannt wird, in keiner kon-
stitutionellen Verfassung aber die Volksvertretung auf die Mitwirkung bei der Fest-
setzung von Rechtssätzen beschränkt, vielmehr auch bei solchen wichtigen Angelegenheiten
zur Mitwirkung berufen ist, welche inhaltlich Verwaltungsakte sind. Ist hiernach der
Gegensatz allerdings älter als die Preußische Verfassungsurkunde, so ist er doch zu wissen-
sastücher Klarheit und Formulirung erst gebracht, zu einem Gemeingute der Rechtswissen-
schaft, insbesondere des Staatsrechts erst geworden durch die 1867 erschienene Schrift
von Gneist, Budget und Gesetz, ganz besonders aber durch die 1871 erschienene
Schrift von Laband, das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preußischen Ver-
fassungsurkunde, unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes; die
terminologische Bezeichnung des Gesetzes als materielles und formelles ist 1867 durch
E. v. Stockmar, Studien über das Preußische Staatsrecht (in der Zeitschrift für
Deutsches Staatsrecht) in die Wissenschaft eingeführt. Somit hatte der Gegensatz nicht
bloß für Preußen thatsächlich noch gar nicht existirt, sondern war auch theoretisch noch
nicht ins Bewußtsein gekommen, als man die Verfassung schuf. Es war daher unmög-
lich, daß man bei der Formulirung des Art. 62 Abs. 1 an das Gesetz in einem anderen
Sinne dachte, als in welchem Sinne man es eben kannte, nämlich im materiellen Sinne.
Im anderen Falle wäre es doch ganz unvermeidlich gewesen, bei den Kammer-
verhandlungen darauf hinzuweisen, wie das Wort Gesetz nicht in dem bisherigen all-
bekannten, sondern in einem neuen Sinne zu verstehen sei, der neue Sinn hätte erklärt,
der Gegensatz einer Erörterung unterzogen, seine erst ein halbes Menschenalter später
erfolgte begriffliche Klarstellung und Formulirung schon damals erfolgen müssen. Dies
wäre um 46 unumgänglicher gewesen, als die erste Grundlage der Verfassungsurkunde,
die Verordnung über einige Grundlagen der Preußischen Verfassung vom
6. April 1848 (oben S. 23) die Betheiligung der Volksvertretung an der Gesetzgebung
in § 6 kurzer Hand dahin formulirt hatte:
Den künftigen Vertretern des Volks soll jedenfalls die Zustimmung zu allen
Gesetzen zustehen.
Gleichwohl ist Solches nicht geschehen, eine irgendwie nennenswerthe Debatte über
Abs. 1 und 2 — Abs. 3 ist erst nachträglich als Proposition VII. von der Krone be-
antragt worden — hat überhaupt gar nicht stattgefunden. Die Beschränkung der Krone
in der Ausübung der Gesetzgebungsgewalt ist bei der Entstehung der Verfassung für
eine so selbstverständliche erachtet worden, daß von dem ersten Entwurfe eines Ver-
fassungsgesetzes — vom 20. Mai 1848 — bis zu den Schlußabstimmungen der Kam-
mern über die endgiltige Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 keinerlei Worte
darüber verloren wurden. Die Kommissionsberichte begnügten sich mit dem lakonischen
Satze, daß die betreffende Bestimmung — Art. 36 des Entwurfes vom 20. Mai 1848,
Art. 60 der oktroyirten Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 — „zu keinem Ab-
änderungsvorschlage Anlaß gebe“, oder daß er „von allen Abtheilungen ohne Weiteres
angenommen sei“, und im Plenum unterblieb jede Diskussion.
Dieses Resultat wird durch die Verfassungsurkunde anderweitig unterstützt. Die
Bedeutung des Abs. 2 liegt allerdings, wie unten suhb C. wird gezeigt werden,
mehr nach einer anderen Richtung, aber Abs. 2 ist zugleich eine Ergänzung oder nähere
Bestimmung zu Abs. 1, indem nach ihm jedes Gesetz nicht bloß auf dem Zusammen-
wirken schlechthin, sondern auf dem übereinstimmenden Zusammenwirken des Königs und
der beiden Kammern beruht. Hätte nun Abs. 1 die gesetzgebende Gewalt im formellen
Sinne gefaßt, so würden Abs. 1 und 2 völlig tautologisch sagen: kein Gesetz kann ohne
Zustimmung der Kammern zu Stande kommen, und: was mit Zustimmung der Kammern
zu Stande kommt, ist ein Gesetz (v. Schulze Bd. 2 § 171 S. 18). Ferner befiehlt
Art. 86, daß die Gerichte keiner anderen Autorität als der des Gesetzes unterworfen
sein sollen. Auch die Bedeutung dieses Artikels liegt mehr nach einer anderen Seite
(Verbot der Kabinetsjustiz), aber er dient ebenfalls dem richtigen Verständniß des Art. 62.
Die Richter urtheilen nach Rechtsnormen. Seit Durchführung der Verwaltungsgerichts-
barkeit giebt es keinen einzigen Rechtssatz, der nicht zur Entscheidung durch ein — Justiz-
oder Verwaltungs= — Gericht kommen könnte; folglich müssen — vom Gewohnheits-
rechte abgesehen — sämmtliche Rechtssätze Gesetzesform haben, können nur unter Mitwirkung
und Zustimmung des Landtages erlassen, aufgehoben, abgeändert oder authentisch interpretirt
werden. Wunderbarer Weise stimmt Arndt hiermit überein (in Anmerk. 2 zu Art. 109,
S. 179, und in Anmerk. 2 zu § 13 des Gesetzes vom 1. Juni 1870, S. 193).