I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1860. Art. 62. 199.
Wird in Erinnerung genommen, daß auf der einen Seite die Reichsgesetzgebung
mehr und mehr rechtliche Materien der Regelung durch die territoriale Gesetzgebung
entzieht, auf der anderen Seite immer mehr Gegenstände, welche bisher dem Bereiche
der bloßen Verordnung angehörten, in den der Gesetzgebung hinübergezogen werden,
ferner daß auch das Gesetz im formellen Sinne die Regierung bindet und nur mit
Zustimmung der Volksvertretung wieder aufgehoben werden kann, so ist leicht zu er-
kennen, wie die hier besprochene Kontroverse nur einen wenig umfangreichen Boden
realer Bethätigung findet. Aber wenn irgendwo, muß gerade auf dem Gebiete des
öffentlichen Rechts, wie v. Schulze (Bd. 2 § 173 S. 28 Anmerk. 1) den Vorwurf
gegen Arndt formulirt, jeder dem unzweideutigen Ausdruck des Gesetzes angethanen
Gewalt entgegengetreten werden. Jedenfalls seit Geltung des Allgemeinen Landrechts, seit
dem 1. Juli 1794, hat kein Minister, keine Staatsbehörde Rechtsnormen setzen dürfen,
ohne hierzu in der absoluten Zeit durch den König, seit Geltung der Verfassungsurkunde
unmittelbar oder mittelbar durch ein Gesetz spezielle Ermächtigung erhalten zu haben,
also auf dem Wege der Delegation. Ebensowenig darf es der Bundesrath, welcher
nach Art. 7 Nr. 2 der Reichsverfassung generell nur kompetent ist bezüglich der zur
Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und
Einrichtungen. Wenn Arndt behauptet, man habe nicht daran gedacht, Rechtssatz und
Gesetz zu identifiziren, so ist es umgekehrt unmöglich Lewesen das Gegentheil zu denken.
Arndt zitirt allerdings für seine Behauptung die Verhandlungen der Ersten Kammer
vom 3. November 1849 — Stenogr. Verhandlungen Bd. 3 S. 1315 f. —, aber die
dortigen Verhandlungen beziehen sich nicht auf den Art. 62, sondern auf Art. 63. Wie
aus der Identifizirung von Gesetz und Rechtsnorm die Fortlassung des Titel II. „von
denschehhten der Preußen“ hätte folgen müssen, ist dem Verfasser dieses Kommentars nicht
verständlich.
2. Die Generalregel ist also die, daß alle Verwaltungsakte und Einzelverfügungen,
wenn nicht die Verfassung oder ein Spezialgesetz das Gegentheil anordnen, von der
Regierung allein ausgehen, wogegen alle eigentlichen Rechtsvorschriften in den Formen
der Gesetzgebung erlassen werden müssen. Hiervon bilden eine Ausnahme die König-
lichen Verordnungen des Art. 45 (dazu Anmerk. D., oben S. 131/132), die Nothverord-
nungen des Art. 63 und die Kirchengesetze, soweit sie rein kirchlichen Charakter haben.
Die Gesetze der evangelischen Kirche werden von dem Könige nicht als Staatsoberhaupt,
sondern als Träger des Kirchenregiments erlassen, bedürfen der Zustimmung der obersten
Synode (Generalsynode, Landessynode), welche auch das Recht der Initiative hat, werden
von dem Präsidenten des Oberkirchenrathes bezw. dem Kultusminister gegengezeichnet
und in den kirchlichen Gesetz= und Verordnungsblättern publizirt. Sie sind nur
soweit rechtsgiltig, als sie mit einem Staatsgesetze nicht in Widerspruch stehen, und
um ihre Rechtsgiltigkeit zu konstatiren, muß, bevor der König sie vollzieht, durch eine
Erklärung des Staatsministeriums festgestellt werden, daß gegen das Gesetz von
Staatswegen Nichts zu erinnern ist, muß auch dieser Feststellung in der Verkün-
digungsformel Erwähnunggeschehen (Art. 60 Anm. C., oben S. 176 Nr. 13). Wo die Kirchen-
gesetze das Rechtsgebiet des Staates berühren, bedürfen sie der staatlichen Anerkennung, be-
ziehungsweise einer Sanktion, welche die betreffenden Vorschriften mit staatsgesetzlicher Wirk-
samkeit bekleiden und dadurch zu einem Theile des öffentlichen Rechtes gestalten. Solche
Vorschriften sind diejenigen über die Vertretung der Gemeinde nach Außen und
in vermögensrechtlicher Beziehung über die Verwaltung des Kirchenvermögens, über die
Rechtsverhältnisse des Patronats, über das kirchliche Besteuerungsrecht, beziehungsweise
die Pflicht der Gemeinden und Kirchenkassen zux Aufbringung der für kirchliche Zwecke
erforderlichen Mittel, über das kirchliche Strafrecht. Eine fernere Ausnahme bilden na-
türlich alle diejenigen, immer zahlreicher werdenden Materien, welche zur Kompetenz
des Reiches gehören. Im Uebrigen ist das Recht des Landtages auf Theilnahme an
der Gesetzgebung ein ganz allgemeines, sowohl bezüglich der Gegenstände der Gesetz-
gebung, als auch bezüglich des geographischen Umfanges des Geltungsgebietes der Ge-
setze (die ganze Monarchie, eine oder mehrere Provinzen, Regierungsbezirke, Kreise,
Amts- und Gemeindebezirke, Gerichtssprengel u. s. w.). Es greift sogar über den
Gegensatz des materiellen und formellen Gesetzes dergestalt hinaus, daß, ohne jede
Rücksicht auf den Gegenstand und Inhalt, unter dem Titel und in der Form des Ge-
setzes eine verbindliche Publikation ohne Genehmigung des Landtages und deren Er-
wähnung überhaupt nicht geschehen kann. — v. Rönne (Bd. 1 § 89 S. 357, auch
S. 205/206 Anmerk. 7 in sine) erörtert die Frage, ob eine Kammer auf ihr Recht der
Zustimmung völlig verzichten, also dem Könige die einseitige Festsetzung des Gesetzes