Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

200 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62. 
überlassen dürfe, und verneint sie, weil die verfassungsmäßige gemeinschaftliche Aus- 
übung nicht bloß ein Recht, sondern zugleich eine diesem Rechte entsprechende Pflicht 
sei. Das ist richtig, besagt aber Nichts zur Sache. Zunächst ist zu unterscheiden. Daß 
eine der beiden Kammern auf die Theilnahme verzichtet, die andere Kammer weiter 
Theil nimmt, kann nicht für zulässig erachtet werden. Die Unwahrscheinlichkeit dieses 
Verzichtes ist so groß, daß es gewiß nicht erforderlich ist, seine Unzulässigkeit darzulegen; 
auch genügt der einfache Hinweis auf Abs. 2 des Art. 62. Dagegen ist nicht zu er- 
sehen, warum nicht — natürlich nur durch ein Gesetz! — der König ermächtigt werden 
kann, im Wege Königlicher Verordnung, ohne weitere Zuziehung der Kammern, Vor- 
schriften über Gegenstände zu erlassen, welche an sich und ihrer Natur nach der Gesetz- 
gebung angehören. Eine Theilnahm der Kammern liegt ja schon darin, daß sie das 
ermächtigende Gesetz beschließen. v. Rönne's Nein ist um so auffälliger, weil er 
(a. a. O. Anmerk. 3) zugleich darauf hinweist, wie es verfassungsmäßig nicht unzu- 
lässig ist, durch ausdrückliche Anordnung eines verfassungsmäßig zu Stande gekommenen 
Gesetzes dem Könige oder bestimmten ihm untergeordneten Organen die Befugniß zum 
Erlefe solcher Verordnungen (z. B. allgemeiner Polizeiverordnungen) zu delegiren, 
welche nicht bloß Ausführungsbestimmungen, sondern Rechtsvorschriften enthalten. Sein 
Hinweis darauf, daß auch der König nicht berechtigt ist, sein Recht aus dem Art. 62 
den Kammern allein zu überlassen, trifft nicht zu. Denn der König ist nicht lediglich be- 
rechtigt zur Theilnahme an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt, sondern ist 
alleiniger Inhaber der gesetzgebenden Gewalt. Ganz abgesehen davon, daß die Voll- 
jehung und Publizirung des Gesetzes nur durch ihn erfolgen darf, ist daher ein solcher 
erzicht schon nach dem Begriffe des Preußischen Königthums rechtlich unmöglich. Läßt 
sich somit der Verzicht der Kammern mit dem des Königs gar nicht vergleichen, so spricht 
schließlich auch die bisherige staatsrechtliche Praxis gegen v. Rönne. Zu nennen sind 
z. B. das Gesetz, betreffend die Bildung der Ersten Kammer, vom 7. Mai 1853 (unten 
Art. 65 bis 68 Anmerk. A.) und das Gesetz, betreffend die Deklaration der Ver- 
fassungsurkunde vom 31. Januar 1850, in Bezug auf die Rechte der mittelbar ge- 
wordenen Deutschen Reichsfürsten und Grafen, vom 10. Juni 1854 (Art. 4 Anmerk. B. 
III., oben S. 54); zu beachten ist auch § 17 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Ge- 
richtsverfassungsgesetze (unten Art. 96 Anmerk. C.). v. Rönne's Ansicht ist mit einer 
gewissen Beschränkung getheilt worden von v. Gerber, Grundzüge des Deutschen 
Staatsrechts, 3. Aufl., § 46 S. 150 Anmerk. 5, ist eingehend und zutreffend widerlegt 
von Arndt, das Verordnungsrecht im Deutschen Reiche auf der Grundlage des 
Preußischen, 1884. S. 16ff., siehe auch Arndt, Verfassungsurkunde Anmerk. 4 zu 
Art. 65 bis 68, S. 129, Bornhak Bd. I. S. 368 ff., v. Stengel S. 168, und hat jetzt 
keinen namhaften Anhänger mehr. 
3. Im Staatsleben kommen Fälle vor, für welche noch keine gesetzliche Regel vor- 
handen ist, deren Regelung aber nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht der freien 
Entschließung überlassen werden kann, oder für welche eine Ausnahme von der be- 
stehenden Rechtsordnung nothwendig erscheint. Für solche Fälle ist ein Specialgesetz 
nöthig, welches einen einzelnen Fall, der nicht als konkreter einer abstrakten Gesetzes- 
regel untergeordnet werden kann oder soll, gesetzlich normirt. Für die Regelung jener 
ain ist bat im Allgemeinen die Zustimmung des Landtages als nothwendig zu 
erachten. 
Einer besonderen Prüfung bedarf die Bestätigung von Statuten, die Verleihung 
von Privilegien und von Dispensationen. 
a) Die Statuten gewisser Verbände oder Vereinigungen erhalten ihre verbindliche 
Kraft und Giltigkeit erst durch die landesherrliche (oder ministerielle) Bestätigung. 
Das Herrenhaus hat die Frage aufgeworfen, in wie weit hierbei eine Mitwirkung 
des Landtages einzutreten habe. Die Betheiligten müßten im Falle ihres Wider- 
spruches gegen die beabsichtigten Festsetzungen des Statuts das Recht haben, zu 
verlangen, daß über ihr Eigenthum nur durch Gesetz, mithin unter Theilnahme 
sämmtlicher Faktoren der gesetzgebenden Gewalt, disponirt und ihnen Lasten auf- 
erlegt würden, denn seit Erlaß der Verfassungsurkunde genüge es nicht 
mehr, die Theilnehmer nur zu hören und dann dasjenige anzuordnen, was den 
Verwaltungsbehörden angemessen erscheine. Aus diesen Gründen hat also das 
Herrenhaus die Vorlegung eines Geseptentwurfes verlangt, nach welchem, in Ab- 
änderung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften, die Statuten über neu zu bildende 
Verbände und Genossenschaften der gedachten Gattungen und die Abänderung be- 
stehender Statute, abgesehen von der schon gesetzlich bestehenden Anhörung der In- 
 
	        
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