Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 62. 203 
vorgeschrieben. Allerdings wird — mit Erstreckung auch auf die Publikation — mehr- 
fach eine zeitliche Beschränkung angenommen. So sagt v. Rönne Bd. 1 § 94 S. 392: 
Die Ausübung des Rechtes der Sanktion eines Gesetzes und des Rechtes 
der Verkündigung desselben ist zwar nicht durch eine ausdrückliche Bestimmung der 
Verfassung an eine Endfrist (an einen terminus ad quem) gebunden, allein es muß 
angenommen werden, daß dieses Recht nicht länger besteht, als bis eine neue 
Sitzungsperiode des Landtages beginnt. Der gesammte Gesetzgebungsakt von der 
Einbringung des Entwurfes des Gesetzes im Landtage bis zur Verkündigung der 
ausgefertigten Gesetzesurkunde in der Gesetzsammlung muß nach einer allgemeinen 
Uebung, die sich zu einem konstitutionellen Gewohnheitsrechte gestaltet hat, beendet 
sein, bevor der Landtag zu einer neuen Sitzungsperiode zusammentritt. Dies folgt 
nicht allein aus dem in unbestrittener Geltung stehenden Grundsatze des kon- 
stitutionellen Staatsrechtes von der Diskontinnität der Landtagssessionen, sondern auch 
aus der den Kammern gebührenden Rücksicht, deren Mehrheit vielleicht wegen ver- 
änderter Verhältnisse zur Zeit nicht mehr zustimmen würde, so daß es angemessen 
erscheint, ihnen den Gesetzentwurf nochmals vorzulegen. Bei Anerkennung dieses 
Grundsatzes ergiebt sich aber von selbst, daß die Grenze des Rechtes der Sanktion, 
beziehungsweise der Publikation nur so weit gesteckt werden kann, daß solches mit dem 
Zeitpunkte des nächsten Zusammentretens der Kammern erlischt, da überdies die 
Annahme eines anderen Zeitpunktes prinzipienlos sein und zur Willkür führen, auch 
die Rechte der Kammern beeinträchtigen würde. 
Diese Ansicht kann jedoch nicht für richtig erachtet werden. Zunächst muß die 
Existenz des angeblichen konstitutionellen Gewohnheitsrechtes bestritten werden. Die 
Bestimmung des Zeitpunktes der Sanktionirung bezw. Publizirung ist für den Mo- 
narchen ein Akt eigenen und unbeschränkten Ermessens, eine res merae facultatis, und 
wenn er dieselbe bisher regelmäßig bis zum Beginn einer neuen Sitzungsperiode des 
Landtages vorgenommen hat, so läßt sich gleichwohl nicht nachweisen, daß er dies in 
der Annahme gethan habe, hiermit einer Rechtspflicht nachzukommen (opinio necessitatis). 
v. Rönne selbst führt a. a. O. Anmerk. 4 zwei Gesetze an, welche erst mehrere Jahre 
nach ihrer Annahme im Landtage sanktionirt und publizirt worden sind, und diese Bei- 
spiele lassen sich jedenfalls bezüglich der Publizirung mühelos vermehren. So ist das 
Gesetz, betreffend den Rechtszustand der von dem Königreich Württemberg an Preußen 
abgetretenen Gebietstheile, sowic die Abtretung Preußischer Gebietstheile an das König- 
reich Württemberg, vom 27. Februar 1884 erst am 15. Juni 1885 (Ges.-Samml. S. 165), 
das Gesetz, betreffend den Rechtszustand einiger vom Fürstenthum Lippe-Detmold an 
Preußen abgetretener Gebietstheile in den Kreisen Herford, Bielefeld und Höxter, sowie 
die Abtretung einiger Preußischer Gebietstheile an Lippe-Detmold, vom 9. Mai 1888, 
vollzogen von König Friedrich III., nicht bloß nach Ablauf der Sitzungs-, sondern nach 
Ablauf der Legislaturperiode und sogar erst nach dem Tode dieses Königs, am 22. Ja- 
nuar 1889 (Ges.-Samml. 1889 S. 5) publizirt worden. Der von v. Rönne angerufene 
Grundsatz der Diskontinnität der Landtagssessionen hat nur die in § 80 der Geschäfts- 
ordnung für das Herrenhaus, § 74 der Geschäftsordnung für das Haus der Ab- 
geordneten sormulirte Bedeutung, „daß Gesetzesvorlagen, Anträge und Petitionen mit 
dem Ablaufe der Session, in welcher sie eingebracht und noch nicht zur Beschlußnahme 
gediehen sind, für erledigt zu erachten“, nicht aber auch die Bedeutung, daß dadurch fer- 
tige, zu Stande gekommene Beschlüsse des Landtages annullirt werden. Welche „Rechte"“ 
des Landtages oder einer einzelnen Kammer durch eine Verzögerung der Sanktionirung 
oder Publizirung beeinträchtigt werden könnten, läßt sich, allgemein betrachtet, gar nicht 
erkennen. Nur soviel kann zugegeben werden, daß es wünschenswerth ist, wenn der 
Monarch bei einer längeren Verzögerung die Prüfung, ob das Gesetz der Ueberzeugung 
und dem Interesse des Volkes entspreche, mit gesteigerter Sorgfalt anstelle. Hiermit 
stimmen überein v. Schulze Bd. 2 § 172 S. 23 und Arndt zu Art. 62 Anmerk. 5 
S. 125. Befremdender Weise geben jedoch Beide und ebenso v Stengel S. 170 nach dem 
Vorgange von Meyer Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts § 158 S. 464 wiederum 
der v. Rönnesschen Ansicht soweit nach, daß die Frist für Sanktion und Publikation 
mit Ablauf der Legislaturperiode ihr Ende erreiche, weil die Anordnung einer gesetzlichen 
Bestimmung nur auf Grund der Zustimmung des zur Zeit der Publikation bestehenden 
Landtages zulässig sei. Auch diese Ansicht ermangelt jeglichen zureichenden Grundes. 
Abs. 3 ist von der Krone als Proposition VII. vom 7. Januar 1850 mit Bezug darauf 
beantragt worden, daß nach Proposition VIII. die Erste Kammer aufhören sollte, eine 
reine Wahlkammer zu sein, und daher der Zweiten Kammer ein überwiegender Einfluß
	        
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