I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1860. Art. 63. 207
unter Verantwortlichkeit des gesammten Staatsministeriums, Ver—
ordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft
erlassen werden. Dieselben sind aber den Häusern des Landtages bei
ihrem nächsten Zusammentritte zur Genehmigung sofort vorzulegen.
A. Während nach Art. 62 die Uebereinstimmung des Königs und des Landtages zu jedem
Gesetze erforderlich, also der König ohne Zustimmung des Landtages die gesetzgebende
Gewalt auszuüben nicht berechtigt ist, gestattet Art. 63 unter gewissen Bedingungen und
Voraussetzungen dem Könige, auch ohne diese Zustimmung Verordnungen mit Gesetzes-
kraft zu erlassen, sog. Nothverordnungen, Verordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft,
Nothgesetze, provisorische Gesetze. Diese Ausnahmebestimmung findet sich zuerst in der
oktroyirten Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1818 (als Art. 105 Abs. 2). Bei der
Revision ist sie in der Ersten Kammer angefochten und ihre Streichung beantragt worden,
weil man unmöglich der Regierung in der Verfassung selbst das Recht einräumen könne,
Verfassungsverletzungen vorzunehmen, und weil es — auf diesem Standpunkt steht das
Englische Staatsrecht! —, wenn in Fällen der Nothwendigkeit Verordnungen oktroyirt
werden müßten, zweckmäßiger sei, dies ohne ausdrückliche Gestattung der Verfassung zu
thun und demnächst eine sog. Indemnitätsbill zu verlangen (Stenogr. Berichte der Ersten
Kammer 1849/1850 S. 1311 ff.). Die Revisionskammern haben, statt jenem Antrage
stattzugeben, die Bestimmung an die systematisch richtige Stelle versetzt und zugleich die
der Arrne ertheilte Befugniß durch Spezialisirung der Voraussetzungen und Bedingungen
begrenzt, wobei allerdings die jenem Antrage zugefügte Warnung dahin eintraf, daß für
die ausdrückliche Gestattung des Oktroyirungsrechtes keine zutreffende Grenze gezogen
und daher eine jeden ½* ausschließende Fassung nicht formirt wurde. Dies ir ein
Fehler, der zudem noch durch folgenden Umstand verstärkt wird. Die Rechtskontrolen
eines ausgebildeten Staatswesens lassen sich zwar so sinnreich spczialisiren, daß der Fall
einer rechtlich begründeten Ministeranklage thatsächlich nur sehr selten vorkommt, aber
für das Gebiet der Nothverordnungen bleibt eine Lücke, die nur durch die Ministerver-
antwortlichkeit ausgefüllt werden kann. In Preußen stehen, weil der Art. 61 der Ver-
fassungsurkunde nicht ausgeführt ist, die rechtliche Verantwortlichkeit der Minister und
der über solche Anklagen entscheidende Gerichtshof lediglich auf dem Papier, die Lücke ist
also nicht ausgefüllt. Daran hat man sich bei der näheren Prüfung des Art. 63 stets
zu erinnern.
Die maßgebenden Grundsätze sind folgende:
1. Die erste Voraussetzung für den Erlaß einer Verordnung mit Gesetzeskraft ist die,
daß die Kammern nicht versammelt sind. Allerdings unpractisch, aber nicht unzu-
lässig ist die Oktroyirung, wenn vor der Publikation der gleichwohl früher vom König
vollzogenen Verordnung der Landtag schon zusammengetreten ist.
2. Der Erlaß der Nothverordnung muß ein so dringendes Erforderniß sein, daß der
Beginn der nächsten Landtagssession nicht abgewartet werden kann. Handelt es sich
um einen Gegenstand von großer Wichtigkeit, so kann die Dringlichkeit nur alsdann
als nachgewiesen gelten, wenn selbst eine Einbernfung des Landtages ad hoc nicht
mehr ausführbar war.
3. Die öffentliche Sicherheit muß nicht anders aufrecht erhalten oder ein ungewöhn-
licher Nothstand nicht anders beseitigt werden können, als gerade durch den unver-
züglichen Erlaß der Nothverordnung. Auch darf, wie das Attribut der Ungewöhn.
lichkeit zeigt, der Nothstand kein solcher sein, der bei pflichtmäßiger Aufmerksamkeit
entweder nach seiner Existenz oder nach seiner Größe vorausgesehen werden kann,
bezw. nach seinem Umfang oder nach der Zeit seines Eintritts nicht ungewöhnlich
ist, sich also schon mehrfach wiederholt hat. Der Nothstand kann auch darin be-
gründet sein, daß in Folge übernommener Verbindlichkeiten internationaler Natur,
z. B. Verbindlichkeiten aus Staatsverträgen, bestimmte Anordnungen unverzüglich
getroffen werden müssen. Das Bedürfuß braucht nicht den ganzen Staat zu um-
fassen, kann sich, z. B. bei Feuersbrunst, Deichbruch u. ä. auf kleine lokale Partien
beschränken. Andererseits kann aber eine bloße gewöhnliche Nützlichkeitsrücksicht einen
solchen außergewöhnlichen Schritt nicht rechtfertigen. Es muß sich eben um einen
schweren, dem Staats- oder Volksleben drohenden Nachtheil handeln. Hieraus er-
iebt sich auch, daß der Nothstand innerhalb des Preußischen Staates entstanden
aem muß, und daß die Rücksicht auf Verhältnisse, die sich in anderen Ländern ge-
staltet haben, den Erlaß einer Nothverordnung niemals rechtfertigen kann.