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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 63.
Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß die Begriffe „nothwendig,
ungewöhnlich, dringend“ schwankender Natur sind. Die Ansichten des Staats-
ministeriums über die Nothwendigkeit und Dringlichkeit der Verordnung können sehr
verschieden sein von denen der Volksvertretung. Gelingt es dem Ministerium nicht,
die Volksvertretung von diesen Momenten zu überzeugen, bleibt dieselbe dabei stehen,
daß kein anerkennenswerthes Bedürfniß zu einer jchen Verordnung vorgelegen
habe, so ist eine Anklage des Ministeriums wegen Verfassungsverletzung allerdings
grundsätzlich zulässig. Da sich aber für die Ungewöhnlichkeit und Dringlichkeit des
Nothstandes nicht feste juristische Normen aufstellen, sondern nur subjektive Auf-
fassungen geltend machen lassen, so würde ein Staatsgerichtshof die Minister nur
dann schuldig sprechen können, wenn sie sich bei Beurtheilung der Dringlichkeit des
Nothstandes geradezu eines dolus oder einer lata culpa schuldig gemacht hätten.
Nach Art. 44 der Verfassungsurkunde ist die Nothverordnung mindestens von einem
Minister zu kontrasigniren. Daß sämmtliche Mitglieder des Staatsministeriums
gegenzeichnen, ist nicht vorgeschrieben und auch nicht erforderlich, weil der Zweck der
Gegenzeichnung, ohne weitere Beweisführung festzustellen, wer von den Ministern
an dem Regierungsakte mitgewirkt habe (Art. 41 Anm. B., oben S. 126), bei der
Nothverordnung durch die Bestimmung erreicht wird, daß die Verantwortlichkeit für
den Erlaß der Nothverordnung das gesammte Staatsministerium treffe. Ein Mi-
nister kann sich daher der Verantwortlichkeit nur dadurch entziehen, daß er vorher
sein Amt niederlegt. Ebenso v. Stengel S. 174 und Arndt Art. 63 Anm. 2. Da-
geigen verlangt v. Rönne (Bd. 18 91 S. 375 Anm. 2) die Gegenzeichnung sämmtlicher
bitglieder des Staatsministeriums, weil nur durch diese die Uebernahme der Gesammt-
verantwortlichkeit nach Außen hin konstatirt werde. Aber die Konstatirung ist ganz un-
nöthig, und eine Uebernahme findet gar nicht statt, vielmehr werden die Minister, sie
mögen die Verantwortung übernehmen wollen oder nicht, verantwortlich gemacht durch
die Bestimmung des Art. 63. Sie können die Verantwortung gar nicht „übernehmen“,
sie können sich ihr nur entziehen, indem sie, wie gesagt, vorher ihr Amt niederlegen.
Die Nothverordnung darf der Verfassung nicht zuwiderlaufen. Sie darf keine An-
ordnung enthalten, welche nur ein unter Beobachtung der Formen des Art. 107 er-
lassenes verfassungsänderndes Gesetz enthalten dürfte, darf weder etwas bestimmen,
was anzuordnen nach der Verfassungsurkunde überhaupt verboten ist, noch in irgend
einer Weise die in der Verfassungsurkunde niedergelegten Grundprinzipien des Ver-
fassungsrechts ändern oder aufheben. Dies ist in Art. 63 ausdrücklich ausgesprochen,
ist aber auch selbstverständlich, weil die Ermächtigung der Regierung zum Erlaß
von Nothverordnungen überhaupt nicht anders als innerhalb des Rahmens und auf
dem Boden der Verfassung vorhanden ist. Daher dürfen namentlich die verfassungs-
mäßigen Grundsätze derjenigen Artikel der Verfassungsurkunde nicht verletzt oder
gar aufgehoben werden, welche die sog. Grundrechte feststellen (Art. 3 bis 42), weil
diese Rechte auch für die ordentliche Gesetzgebung bindend sind und nur theilweise
im Fallc der Erklärung des Belagerungszustandes (Art. 111) zeit= und distriktsweise
suspendirt werden dünen. Ebensowenen auch ist es statthaft, in einer oktroyirten
Verordnung die Fundamentalsätze der durch die Verfassung eingeführten konstitutio-
nellen Staatsform zu verletzen, und deshalb ist es unzulässig, eine Oktroyirung
vorzunehmen, welche die Grundsätze der Ministerverantwortlichkeit (Art. 61), des
Zweikammersystems (Art. 62), der in der Verfassungsurkunde und den darin (Artikel
115) in Bezug genommenen, mithin einen integrirenden Theil derselben bildenden
Wahlgesetzen Re#sgestelleen Normen über Wahlen, Wahlrecht und Wählbarkeit (Nrt. 65
bis 75), ferner die Bestimmungen über Berufung der Kammern und die Rechte der
Kammern und ihrer Mitglieder (Art. 62, 76 bis 85), desgleichen die verfassungs-
mäßigen Prinzipien von der richterlichen Gewalt (Art. 86 bis 97), soweit diese nicht
ohnehin schon durch die Reichsgesetzgebung der Einwirkung der Territorialgewalt
entzogen sind, endlich die Bestimmungen über die Ausübung der Finanzgewalt (Art.
99 bis 104) aufhebt, abändert, beschränkt oder suspendirt.
Hierüber herrscht kein Streit. Um so mehr ist dies aber der Fall bezüglich
eines zweiten Punktes. Die Verfassungsurkunde verweist nämlich in einer Reihe
von Artikeln auf die Regelung der Materie durch erst noch zu erlassende und zum
Theil auch heute noch nicht ergangene Gesetze. Ihre Terminologie ist hierbei eine
verschiedene: besonderes Gesetz (Art. 13, 17, 19, 26, 41, 42, 49, 61, 100, 104, 105,
113, 116), durch ein Gesetz (Art. 2, 99), im Wege der Gesetzgebung (Art. 27, 30, 91),
durch die Gesetzgebung (Art. 33), durch gesetzliche Anordnung (Art. 40), bestimmt