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I. Verfassungsurkunde v. 31. Januar 1850. Art. 84.
Nr. 1 und 85 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes, daß die Mitglieder einer
Deutschen gesetzgebenden Versammlung die Berufung zum Amt eines Schöffen oder
Geschworenen ablehnen dürfen.
Es ist vorgekommen, daß Behörden die Abgeordneteneigenschaft der betreffen-
den Person nicht gekannt und daher unwissentlich den Art. 84 verletzt haben. Um
solchem Fehlgriff vorzubeugen, hat gemäß einer von dem Abgeordnetenhause am
17. März 1875 beschlossenen Aufforderung der Minister des Innern das Zirkular-
reskript vom 18. Mai 1875 erlassen (Verwaltungs-Minist.-Bl. S. 145). Nach dem-
selben sollen die Regierungen die Wahlkommissarien beauftragen, von dem Resultate
jeder Wahl sogleich nach erfolgter Annahme derselben durch den Gewählten der
Polizeibehörde des Wohnortes des Letzteren Mittheilung zu machen. In den Fällen,
wo ein Mandat niedergelegt oder vom Abgeordnetenhause für erloschen, oder von
diesem eine Wahl für ungiltig erklärt wird, soll die Regierung, sobald sie den Auf-
trag zur Herbeiführung der dadurch nothwendig gewordenen Ersatzwahl erhält, die
Polizeibehörde des Wohnortes des bisherigen Abgeordneten davon in Kenntniß
setzen, daß derselbe aufgehört habe, Mitglied des Abgeordnetenhauses zu sein. Die
Polizeibehörden sollen von den ihnen hiernach zu machenden Mittheilungen den
Gerichtsbehörden und den Beamten der Staatsanwaltschaft, in deren Geschäftsbezirk
der Wohnort des Gewählten belegen ist, Kenntniß geben.
Ob ein ähnlicher Erlaß bezüglich der Mitglieder des Herrenhauses ergangen
ist, ist nicht bekannt. "
C. 1. Zunächst darf also kein Mitglied einer Kammer ohne deren Genehmigung wäh-
rend einer Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur
Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der
That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages nach derselben ergriffen wird.
Dieses Verbot gilt nicht für die Dauer einer Legislaturperiode, also einschließlich
der Vakanzzeit zwischen den einzelnen Sitzungsperioden, sondern nur für die
Dauer einer Sitzungsperiode, für diese aber vollständig vom Augenblicke der Er-
öffnung an bis zum Augenblicke der Schließung, einschließlich der zwischen diesen
beiden Zeitpunkten liegenden Vertagungen. In's Auge gefaßt ist ein Verfahren
wegen einer mit Strafe bedrohten That. Somit ist ein Zwangsverfahren, es
mag von den Gerichten oder von den Verwaltungs-, insbesondere den Polizei-
behörden ausgeübt werden, zulässig, weil durch dasselbe nicht eine strafbare
Handlung verfolgt, sondern ein Ungehorsam gegen rechtmäßige Anordnungen der
Organe der Staatsgewalt gebrochen oder unschädlich gemacht werden soll. Ebenso
ist zulässig ein Verfahren auf Entziehung einer gewerblichen Befugniß, z. B. der
Schankgerechtigkeit, des Gewerbes als Schiffer oder Steuermann u. a., weil diese
Entziehung, obgleich von dem Betroffenen oft schwer empfunden, keine eigentliche
Strafe, sondern eine vorbeugende Berwaltungsmaßregel ist. Endlich ist statthaft
die polizeiliche Verwahrung nach § 6 des Gesetzes zum Schug der persönlichen
Freiheit vom 12. Februar 1850 (siehe Anmerk. C. zu Art. 5, oben S. 58).
Das Wort Untersuchung ist im weitesten Sinne zu nehmen. Es umfaßt nicht
bloß die — civil- und militär= — gerichtliche, sondern auch die disziplinare,
polizeiliche und steueramtliche Untersuchung und zwar vom Beginn des Ermitte-
lungsverfahrens an durch das Vorbereitungsverfahren und die Voruntersuchung
hindurch bis zur Erhebung der Anklage bez. Erlaß eines Strafbefehls, überall
jedoch nur insoweit, als es unmittelbar gegen die Person des Landtagsmitgliedes
gerichtet ist, also mit der Befugniß zur Vornahme aller derjenigen Handlungen,
welche nicht, wie z. B. Vorladung oder Haussuchung, in die persönliche Freiheits-
sphäre eingreifen oder in Gegenwart des Mitgliedes geschehen müssen, oder über
welche sich zu erklären ihm Gelegenheit gegeben werden muß. Die Einleitung
der Untersuchung und die Verhaftung sind nur zulässig mit Genehmigung der
Kammer. Diese Genehmigung muß also vorher eingeholt werden, so daß Der-
jenige, welcher ohne jene Genehmigung gegen eine Person, deren Mitgliedschaft
zum Landtage er kennt, mit Untersuchungshandlungen oder gar mit einer Ver-
haftung vorgeht, sich eventuell selbst einer strafbaren Handlung schuldig macht.
Die einzige Ausnahme ist dann gegeben, wenn das Landtagsmitglied bei Aus-
übung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages nach derselben er-
griffen wird. In diesem Falle steht der Kammer nach Abs. 4 lediglich die Be-
fugniß zu, die Aufhebung der Untersuchung oder der Haft während der Dauer
der Sitzungsperiode zu verlangen. Die Ansicht v. Rönne's (Bd. 1 § 72