Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

1. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 90 259 
Die Grundzüge der Gerichtsverfassung sind folgende (Jahrbuch S. 1, 2). 
Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetze unterworfene 
Gerichte ausgeübt. Die Gerichte sind Staatsgerichte; die Privatgerichtsbarkeit ist auf- 
gehoben; die Ausübung einer geistlichen Gerichtsbarkeit in weltlichen Angelegenheiten ist 
ohne bürgerliche Wirkung; dies gilt insbesondere bei Ehe- und Verlöbnißsachen. Urtheile 
werden im Namen des Königs erlassen und vollstreckt. Ausnahmegerichte sind unstatt- 
haft. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Das Verfahren vor 
den Gerichten ist öffentlich und mündlich. 
An der Spitze der Justizverwaltung steht der Justizminister. 
Bei jedem Gericht besteht eine Staatsanwaltschaft. 
Bei jedem Gericht ist eine Gerichtsschreiberei eingerichtet. 
Bei jedem Oberlandesgericht besteht eine Justizhauptkasse, bei jedem Amtsgericht 
eine Gerichtskasse, deren Geschäfte von Kassenbeamten wahrgenommen werden. 
Mit den Zustellungen, Ladungen und Vollstreckungen sind besondere Beamte, 
Gerichtsvollzieher, betraut. 
Die untergeordneten Dienstleistungen bei den Gerichten werden von den Unter- 
beamten (Gerichtsdienern, Gefangenaufsehern u. s. w.) verrichtet. 
Als Vertreter und Beistände der Parteien, sowie als Vertheidiger in Strafsachen 
dienen die Rechtsanwälte. 
Die Notare sind zur Aufnahme von Handlungen der freiwilligen Gerichts- 
barkeit bestimmt. 
Ordentliche Gerichte sind die Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte und 
das Reichsgericht. 
Für bestimmte Rechtsangelegenheiten, welche an sich zur Zuständigkeit ordentlicher 
Gerichte gehören würden, sind besondere Gerichte errichtct. 
Artikel 90. 
Zu einem Richteramte darf nur der berufen werden, welcher 
sich zu demselben nach Vorschrift der Gesetze befähigt hat. 
Die maßgebenden Bestimmungen sind: 
a) Gerichtsverfassungsgesetz §8 2 bis 5, 10, 69, 122, 152; 
b) Ausführungsgesetz zum Deutschen Gerichtsverfassungsgesetze §§ 1 bis 5. 
) Gesetz über die juristischen Prüfungen und die Vorbereitung zum höheren Justiz- 
dienste vom 6. Mai 1869 (Ges.-Samml. S. 650). 
Die dahiglen zum Richteramte wird durch die Ablegung zweier Prüfungen er- 
langt. Der ersten Prüfung muß ein dreijähriges Studium der Rechtswissenschaft auf 
einer Universität vorangehen. Sie wird abgelegt bei einem der Oberlandesgerichte zu 
Königsberg, Berlin, Stettin, Breslau, Naumburg, Kiel, Celle, Cassel und Cöln. Wer 
die Prüfung bestanden hat, wird von dem Präsidenten des Oberlandesgerichts, bei 
welchem er sich zur Beschäftigung meldet, zum Referendar ernannt und eidlich verpflichtet. 
Zwischen der ersten und zweiten Prüfung muß ein Zeitraum von vier Jahren liegen, 
welcher im Dienst bei den Gerichten, der Staatsanwaltschaft und den Rechtsanwälten 
zu verwenden ist. Referendare können die Verrichtungen eines Gerichtsschreibers wahr- 
nehmen und, wenn sie im Vorbereitungsdienste seit mindestens zwei Jahren beschäftigt 
sind, im Falle des Bedürfnisses durch die Justizverwaltung mit der zeitweiligen Wahr- 
nehmung richterlicher Geschäfte beauftragt werden. Denselben kann ferner unter gleicher 
Voraussetzung durch den Amtsrichter, welchem sie zur Ausbildung überwiesen sind, die 
Erledigung einzelner richterlicher Geschäfte übertragen werden. Zu gewissen wichtigen 
Geschäften, insbesondere zur Urtheilsfällung, sind indeß Referendare nicht befähigt. Sie 
können endlich als Amtsanwalt fungiren und nach mindestens zweijähriger Beschäftigung 
im Vorbereitungsdienste einen zeitweise verhinderten Rechtsanwalt vertreten. 
Die zweite, sog. große Staatsprüfung wird bei der für die ganze Monarchie eingesetzten 
Justizprüfungskommission zu Berlin abgelegt. Die in derselben bestandenen Referendare 
werden vom Justizminister zu Gerichtssffesoren ernannt. Die Gerichtsassessoren werden 
einem Amtsgericht oder Landgericht oder mit ihrer Zustimmung einer Staatsanwaltschaft 
zur unentgeltlichen Beschäftigung überwiesen; ihre Versetzung an einen anderen Ort ist 
nur mit ihrer Zustimmung zulässig. Sie sind aber verpflichtet, auf Anordnung des 
Justizministers die Verwaltung einer Amtsrichterstelle, die Stellung eines Hilfsrichters 
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