Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

I. Verfassungsurkunde v. 31. Januar 1850. Art. 99. 303 
dürfnisse bestimmten Ausgabefonds (Extraordinarium) nur dann angewiesen werden 
dürfen, wenn entweder eine rechtliche Verpflichtung zur Zahlung besteht, oder die 
Ausgabe nach dem Ermessen des Verwaltungschefs ohne Gefahr für den geregelten 
Gan der Verwaltung oder für andere wichtige Interessen nicht ausgcsegt wer- 
en kann. 
Motivirt wurde dieser Beschluß dahin: aus der im Art. 109 der Verfassungs- 
urkunde sanktionirten Forterhebung der bestehenden Steuern folge die Befugniß der 
Regierung, diese Steuern zu den Staatsbedürfnissen zu verwenden, von selbst; die Ent- 
scheidung darüber, welche Ausgaben bis zur erfolgten gesetzlichen Feststellung des Aus- 
gabeetats als unzweifelhafte und dringende Staatsbedürfnisse anzusehen seien, stehe 
jedem Verwaltungschef innerhalb seines Departements zu; endlich für die Nothwendigkeit 
derjenigen in den neuen Etatsentwurf ausgenommenen Ausgaben, welche der laufenden 
Verwaltung angehören (Ordinarium) und lediglich aus dem vorzjährigen festgestellten 
Etat übernommen wären, spreche eine durch die verfassungsmäßig erfolgte Feststellung 
dieses vorjährigen Etats begründete Vermuthung. Diese Motivirung war natürlich 
irrig, denn Art. 104 ermächtigt die Staatsregierung nur zur Forterhebung von Ein- 
nahmen, er gewährt also ein unzweideutiges argumentum e contrario, daß nach der 
Verfassungsurkunde ein anderweitiger Rechtstitel zur Fortleistung der Ausgaben als 
das Etatsgesetz nicht existirt. In dem Abgeordnetenhause fanden sowohl der Beschluß, 
als auch seine Motivirung den entschiedensten Widerspruch und eigentlich nur zwei Ver- 
theidiger (v. Kleist-Retzow und v. Bismarck-Schönhausen). Jedoch erklärte der Finanz- 
minister in der Sitzung vom 25. Februar 1851 (Stenogr. Berichte 1850/51 Bd. I. S. 346), 
daß die Staatsregierung in keiner Weise die Rechte der Kammern in Bezug auf 
die Feststellung des Etats durch den Staatsministerialbeschluß vom 16. Dezember 1850 
habe in Frage stellen und durch denselben über ein Prinzip der Kammer gegenüber 
nicht habe entscheiden wollen. 
Gleichwohl hielt die Regierung an den Grundsätzen ihres Beschlusses fest. Am 
22. März 1860 erklärte der Finanzminister in der Budgetkommission des Abgeordneten- 
hauses (Stenogr. Berichte 1860 Bd. IV. S. 533): 
die Staatsregierung erkenne zwar an, daß sich die Angelegenheit der Form nach 
nicht in korrekter Lage befinde, jedoch sei ein materieller Nachtheil bei dem bis- 
herigen Verfahren nicht vorhanden; genehmigte dauernde Ausgaben würden fort- 
geleistet, außerordentliche Ausgaben bagegen nicht geleistet, bevor sie genehmigt 
seien; es bestehe also nur das allerdings gewichtige Bedenken, daß dieser Zustand 
mit der Verfassungsurkunde sich nicht im Einklange befinde. 
Im Jahre 1861 (Abgeordnetenhaus Stenogr. Berichte 1861 Bd. V. S. 627) 
brachte die Regierung einen Gesetzentwurf ein, nach welchem Art. 99 den Zusatz er- 
halten sollte: 
im Falle der Verzögerung der Festsetzung des Staatshaushaltsetats über den An- 
fang der Etatsperiode bleibt der frühere Etat hinsichtlich der Einnahmen und der 
fortlaufenden ordentlichen Ausgaben bis zu dieser Festsetzung, jedoch höchstens sechs 
Monate in Kraft. 
Dieser Entwurf wurde abgelehnt. Im Verlaufe des Jahres 1862 brach der 
sog. Konflikt aus. Die Staatsregierung bestritt dabei, daß dem Abgeordnetenhause auf 
Grund des Art. 99 ein ausschließliches Bewilligungsrecht zustehe, komme doch der Aus- 
druck „bewilligen“ in der Verfassungsurkunde gar nicht vor; sie stellte F. bereits oben 
  
  
(S. 299) erwähnte Lückentheorie auf und behauptete ein Nothrecht zu haben, die Ver- 
waltung auch ohne Etatsgesetz weiter zu führen. Gleichwohl brachte sie am 18. De- 
zember 1863 den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Ergänzung des Art. 99 der 
Verfassungsurkunde, ein (Stenogr. Bericht 1863/64 Anlageband III. Nr. 55 S. 290/1), 
durch welchen sie folgenden Zusatz zu Art. 99 vorschlug: 
Wenn die zur gesetzlichen BVeststellung des Eigatshaushaltsetats erforderliche 
Uebereinstimmung des Königs und beider Häuser des Landtages nicht erreicht wer- 
den kann, so bleibt der zuletzt festgestellte Etat bis zur Vereinbarung eines neuen 
Etats in Kraft. 
Außerordentliche Ausgaben, insoweit sie nicht auf einer Verpflichtung des 
Staates beruhen, dürfen jedoch in dieser Zwischenzeit nur dann geleistet werden, 
wenn sie zu solchen Zwecken bestimmt sind, welchen durch eine in dem zuletzt gesetzlich fest- 
gestellten Etat erfolgte Bewilligung vorgesehen ist, und nur in Höhe des durch 
diesen Etat bewilligten Betrages. 
Eben diese Bestimmungen gelten für den Fall, daß die Feststellung des
	        
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