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I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 107.
Aber die Staatsverträge, so wie sie in der Gesetzsammlung bekannt gemacht werden,
sind weder Verordnungen überhaupt, noch insbesondere Königliche Verordnungen, da
sie keinen Befehl enthalten und auch nicht vom König, sondern von dem Minister der
auswärtigen Angelegenheiten, einem Gesandten u. ä. vollzogen sind. Der Art. 106
könnte also nur dann Anwendung finden, wenn der Staatsvertrag mittels einer den
Befehl zur Befolgung seines Inhaltes enthaltenden Verordnung publizirt worden wäre.
Gleichwohl ist es von jeher für genügend erachtet worden, wenn ein Vertrag so, wie
angegeben, in der Gesetzsammlung publizirt und außerdem eben dort bekannt gemacht
wird, daß die Ratifikation d. h. die Vollziehung durch den Monarchen erfolgt sei. Ge-
wohnheitsrechtlich wird also darin ein Königlicher Befehl, den Vertrag zu befolgen, gesehen.
Artikel 107.
Die Verfassung kann auf dem ordentlichen Wege der Gesetz-
gebung abgeändert werden, wobei in jeder Kammer die gewöhnliche
absolute Stimmenmehrheit bei zwei Abstimmungen, zwischen welchen
ein
A.
Zeitraum von wenigstens einundzwanzig Tagen liegen muß, genügt.
Unter „Verfassung“ ist hier nicht der Inbegriff sämmtlicher auf die Verfassung des
Preußischen Staates sich beziehenden und dieselbe regelnden, also z. B. auch die oben
S. 325 ff. zu Art. 105 verzeichneten Gesetze, sondern nur die Verfassungsurkunde mit den
sämmtlichen seit dem 31. Januar 1850 vorgenommenen Abänderungen und zu Theilen
der Verfassungsurkunde erklärten Zusätzen, also die Verfassungsurkunde so, wie sie in
diesem Augenblicke gestaltet ist, zu verstehen. Ihre Abänderung kann nur auf dem or-
dentlichen Wege der Gesetzgebung, also unter Uebereinstimmung des Königs und beider
Kammern (Art. 62 Abs. 2) erfolgen, nicht aber auf dem Verordnungswege und zwar
dieses weder auf Grund des Art. 63, welcher ausdrücklich bestimmt, daß die Verordnung
mit Gesetzeskraft der Verfassung nicht zuwiderlaufen darf, noch auf Grund von Art. 106
Abs. 2, woselbst nur den Behörden die Prüfung der Rechtsgiltigkeit gehörig verkündeter
Königlicher Verordnungen entzogen, keineswegs aber dem Könige die Befugniß ertheilt
ist, die Verfassung einseitig abzuändern.
Der formelle Gang ist durch die Verfassungsurkunde näher bestimmt. Nach Art. 80
kann keine der beiden Kammern die Abänderung beschließen, wenn nicht im Herrenhause
mindestens sechzig, im Abgeordnetenhause — seit dem Gesetze vom 23. Juni 1876 —
mindestens 217 Mitglieder anwesend sind. Zur Annahme der Abänderung ist die abso-
lute Stimmenmehrheit der anwesenden Mitglieder, sind also mindestens 31 bezw. 109
bejahende Stimmen erforderlich. Erforderlich sind ferner zwei Abstimmungen, zwischen
welchen ein Zeitraum von wenigstens einundzwanzig Tagen liegen muß. Wird dieser
Gang nicht beobachtet, so ist das Verfahren verfassungswidrig, aber die Verfassungs-
widrigkeit ist ohne Einfluß auf die Verbindlichkeit des Abänderungsgesetzes, welche nach
Art. 106 Abs. 1 nur von der gehörigen Bekanntmachung abhängt.
Die Frage, ob vor der zweiten Abstimmung noch eine Diskussion stattfinden soll
oder darf, ist in der Verfassungsurkunde nicht beantwortet, also auch nicht verneint, somit
die Entscheidung den Kammern selbst überlassen. Die beiden Geschäftsordnungen haben
eine verschiedene Antwort gegeben. Die Geschäftsordnung für das Herrenhaus
vom 15. Juni 1892 verordnet in
*62.
Vor der durch Art. 107 der Verfassungsurkunde vorgeschriebenen zweiten
Abstimmung über Verfassungsänderungen findet eine Diskussion nicht statt.
Die Geschäftsordnung für das Haus der Abgeordneten vom 16. Mai
1876 erklärt in
19.
Die nach Art. 107 der Verfassungsurkunde bei Abänderungen der Ver-
fassung erforderliche zweite Abstimmung erfolgt in den Formen der dritten Be-
rathung (§ 18).
18.
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