I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 107. 337
Abänderungsvorschläge zu einzelnen Paragraphen können in der Zwischen-
zeit und im Laufe der Verhandlung eingebracht werden. Sie bedürfen der Unter-
stützung von 30 Mitgliedern.
Die Diskussion erfolgt zunächst über die Grundsätze des Entwurfs nach
Maßgabe des § 16, und hieran schließt sich unmittelbar die Diskussion über die
einzelnen Paragraphen nach Maßgabe des § 17.
Am Schlusse der Berathung wird über die Annahme und Ablehnung des
Gesetzentwurfs abgestimmt. Sind Verbesserungsanträge angenommen worden, so
miren die Schlußabstimmung ausgesetzt, bis das Bureau die Beschlüsse zusammen-
gestellt hat.
Eine Diskussion und Abstimmung über einen Antrag auf Zurückverweisung
der Vorlage an die Kommission ist nach Beendigung der Spezialabstimmung un-
zulässig. 4
C. Wenn sich für die Spezialgesetzgebung das Bedürfniß zum Erlaß von Gesetzen zeigt,
deren Inhalt demnächst nicht mit den Bestimmungen der Verfassungsurkunde im Ein-
gangeesenn würde, so läßt sich ein vierfaches Verfahren denken (v. Rönne Bd. I.
§ 22 S. 89): "
1. Bevor das die Abänderung ausführende Spezialgesetz zur Diskussion kommt,
wird die Verfassungsänderung besonders als Abänderung oder Zusatz der Verfassungs-
urkunde in Antrag gebracht, über sie auf dem in Art. 107 vorgezeichneten Wege Beschluß
in zweimaliger Abstimmung gefaßt und alsdann das Verfassungsänderungsgesetz vom
König publizirt.
2. Gleichzeitig mit dem Spezialgeset wird auch die Verfassungsänderung be-
schlossen, so daß es nur nöthig ist, diese Verfassungsänderung besonders zu redigiren
und dann zweimal zur Abstimmung zu bringen.
3. Erst nach Annahme des Spezialgesetzes wird eine veränderte Redaktion der
Verfassung entworfen und darüber zweimal abgestimmt.
4. Durch das Spezialgesetz, welches von den gesetzgebenden Gewalten und zwar
in Betreff seiner der Verfassungsurkunde zuwiderlaufenden Bestimmungen nach zwei-
maliger Abstimmung in den Kammern angenommen ist, wird die Verfassungsurkunde
ohne jede weitere Form abgeändert.
Es ist klar, daß de lega ferenda nur das erste Verfahren als korrekt, das zweite
und dritte als mindestens zweifelhaft, das vierte als durchaus verwerflich gelten muß.
Wie stellt sich aber das geltende Recht hierzu? Diese Frage wird von v. Rönne
(Bd. II. § 158 S. 367) in folgender Weise beantwortet:
Jede Verfassungsänderung erfordert ein ausdrücklich darauf gerichtetes „Ver-
fassungsänderungsgesetz“, welches die Bestimmungen darüber enthält, welcher Punkt
der Verfassung aufgehoben oder durch eine andere Vorschrift ersetzt werden soll.
Ganz unstatthaft ist es dagegen, die Verfassung bei Gelegenheit des Erlasses eines
Spezialgesetzes durch dieses, dergestalt, daß es nur einer zweimaligen Abstimmung
mit dem Zwischenraum von einundzwanzig Tagen darüber bedürfe, zu ändern.
Zur Begründung dieser Ansicht führt v. Rönne aus (Bd. J. 8 22 S. 90):
Das Staatsgrundgesetz ist mehr, als ein gewöhnliches Gesetz; es ist ein
(durch seine Beeidigung nach Art. 108) garantirtes, und seine Fundamental-
eigenschaft — der Grund, aus welchem es zwischen Krone und Volksrepräsentation
vereinbart worden — ist die, daß es zur Norm für die Spezialgesetzgebung dienen
soll und muß. Eben deshalb darf die Spezialgesetzgebung zu keiner Zeit
einen anderen Boden betreten, als den der Verfassung. Gesetze, die ihr wider-
sprechen, dürfen nicht erlassen werden; tritt aber ein Bedürfniß für die Gesetzgebung
ein, welchem die in der Verfassung gestellten Schranken entgegentreten, so muß vor-
her die Verfassung abgeändert werden. Den Weg dazu bezeichnet der Art. 107.
Dieser sagt, daß es auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung (also durch ein
von sämmtlichen Faktoren angenommenes und dann zu verkündendes Gesetz) ge-
schehen kann; er sagt nicht, daß es durch Gesetze geschehen kann, welche im Gegen-
theil stets mit der Verfassung übereinstimmen müssen und ihr niemals (in irgend
einem Stadium der Berathung) widersprechen dürfen. Spezialgesetze sollen nicht
angenommen werden, damit die Verfassung geändert werde, sondern es fragt sich,
ob die Verfassung zu ändern sei, damit die ihr widersprechenden beabsichtigten Spe-
zialgesetze möglich werden. Bloße Nützlichkeits= und Zweckmäßigkeitsrücksichten, auf
die man sich in der That hiergegen nur berufen hat, vermögen nicht den klaren
Rechtsstandpunkt zu verdrängen.
Schwars, Preußische Verfassun gsurkunde. 22