Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

408 III. Verordn über 2c. des Bersamml.= u. Vereinigungsrechtes v. 11. März 1850. 8 10. 
18. März 1875, Oppenhoff Rechtsprechung Bd. 16 S. 234). Dagegen weicht eine 
Prozession von der hergebrachten Art dann ab, wenn sie im Gegensatz zu früher mit 
Maftbegleitung stattfindet Kammergericht 24. Februar 1890, Johow d Bd. 10 
S. 252). Auch Aufzüge, welche lediglich zum Zweck einer — in der Kirche stattfinden- 
den — kirchlichen Ceremonie vorgenommen werden und einen Theil dieser Ceremonie 
bilden, bedürfen, wenngleich sie unter freiem Himmel vor sich gehen, nicht der vorgängigen 
Genehmigung, — z. B. die feierlichen Züge von Wachtmannschaften, die in alther- 
ebrachter Weise an kirchlichen Festtagen beim Gottesdienste die Ehrenwache bilden, aus 
bem Wachtlokal über die Straße zur Kirche und von da zurück, weil dies ein wesent- 
licher Theil des Wachtdienstes in der Kirche und der damit verbundenen Theilnahme 
am Gottesdienste ist (Obertribunal 1. April 1870, Oppenhoff Rechtsprechung Bd. 11 
S. 221). Uebrigens ist jede Ubweichung von der hergebrachten Art den Ausschlag 
gebend, weil das Gesetz zwischen wesentlichen und unwesentlichen Abweichungen nicht 
unterscheidet. 
Der § 10 findet auch auf diejenigen Wallfahrten Anwendung, deren Endziel 
außerhalb Preußen's liegt. Provinzielle Gesetze über Wallfahrten, " “ das die Wall- 
fahrten außer Landes bei Strafe verbietende Schlesische Cirkularreskript vom 28. Juni 
1764, sind außer Kraft getreten (Obertribunal 8. November 1877, Oppenhoff Recht- 
sprechung Bd. 18 S. 690). 
ach Ansicht des Obertribunals (Urtheil vom 1. Juni 1878, Oppenhoff Recht- 
sprechung Bd. 19 S. 298) hat der § 10 lediglich dasjenige Herkommen im Auge, welches 
ur Zeit des Erlasses des Vereinsgesetzes bereits existirt hat. Die Folge davon wäre 
ie, daß die zu jener Zeit bereits hergebrachten Hochzeitszüge, kirchlichen Prozessionen 
u. s. w. niemabs aus dem Herkommen herausfallen würden, nach jener Zeit aber sich 
ein hier einschlagendes Herkommen gar nicht mehr bilden könnte. Die Ansicht des 
Obertribunals ist aber gewiß irrig, auch von der gegenwärtigen obersten Judikatur 
bereits ausgegeben. Ein Herkommen, eine thatsächliche Uebung kann sich zu jeder Zeit 
bilden, und es ist, da die Rechtsgrundsätze über Bildung und Erlöschen eines 
Gewohnheitsrechtes hier keine Anwendung finden, lediglich eine thatsächliche Frage, ob 
ein Herkommen sich neu gebildet hat oder ob ein früheres Herkommen für erloschen 
zu erachten ist (Kammergericht 27. Juni 1881, Johow Jahrbuch Bd. 2 S. 245, 
und 29. Januar 1883, Verwaltungs-Minist.-Bl. S. 170). 
C. Auch bezüglich der einer Anzeige oder Genehmigung nicht bedürfenden Aufzüge bleibt 
die Polizeibehörde verpflichtet, den aus jenen drohenden Störungen des Verkehrs u. s. w. 
vorzubeugen. Für eine besondere Gattung von Aufzügen ist dies näher geregelt worden 
durch das 
Reskript des Ministers des Innern und des Ministers der geistlichen, 
Unterrichts= und Medizinalangelegenheiten vom 26. August 1874, be- 
treffend die Abhaltung kirchlicher Prozessionen, Wallfahrten u. s. w. 
(Verwaltungs-Minist.-Bl. 8 201). 
Wenn auch nach § 10 des Gesetzes vom 11. März 1850 herkömmliche kirchliche 
Prozessionen, Wallfahrten u. s. w. frei sein sollen von dem Erfordernisse vorgängiger 
polizeilicher Genehmigung, so ist doch diese Bestimmung nur in der Voraussetzung ge- 
wroffen worden, daß von solchen Aufzügen, eben weil sie hergebrachtermaßen zugelassen 
worden sind, für die öffentliche Ordnung und Sicherheit nichts zu befürchten sei, auch 
alle dem Verkehr schuldige Rücksichten dabei beobachtet werden würden. 
Wo diese Vorauesedn nicht zutreffen sollte, wird dies in den meisten Fällen 
seinen Grund darin haben, daß die Grenzen des Hergebrachten überschritten worden sind, 
oder daß Uebergriffe stattgefunden haben, für welche durch das gedachte Gesetz in keiner 
Weise ein Privilegium ertheilt werden sollte. Es wird also nur darauf ankommen, das 
Gesetz richtig zu handhaben- In dieser Beziehung bemerken wir Folgendes: 
1. Es ist mit Strenge darauf zu halten, daß ohne vorgängige schriftliche Genehmigung 
der Ortspolizeibehörde nur eocche kirchliche Prozessionen, Wallfahrten und Bittgänge 
auf öffentlichen Straßen und Plätzen zugelassen werden, welche zweifellos hergebracht 
sind, und nur, soweit sie sich nach Zeit, Ort, Form und Bedeutung genau inner- 
halb der hergebrachten Grenzen bewegen. Ueberschreitungen dieser letzteren sind 
gemäß 8 17 a. a. O. zur Bestrafung zu bringen, und Prozessionen u. s. w., welche 
ohne Genehmigung die hergebrachten Grenzen in einer der vorgedachten Beziehungen 
verlassen, sind zu inhibiren. 
2. Die Genehmigung zu solchen Prozessionen u. s. w., welche nicht zu den hergebrachten 
gehören, oder welche in einer anderen, als der hergebrachten Art beabsichtigt sind,
	        
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