Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 8. 67 
gebenen Normen über die sachliche und durch die in den Prozeßordnungen enthaltenen 
Bestimmungen über die persönliche Zuständigkeit, den Gerichtsstand, beantwortet. Die 
Stellung des so ermittelten gesetzlichen Richters zu den seiner Gerichtsbarkeit unterstellten 
Personen hat eine doppelte Seite. Die gesetzlich geordnete Zuständigkeit darf nicht durch 
irgend welche richterliche Willkür verrückt werden, und die richterliche Gewalt ist, unter 
Beachtung der durch das Völkerrecht gebotenen Ausnahmen, andererseits ohne Rücksicht 
darauf, ob Jemand sich ihr unterwerfen will oder nicht, gegen Jeden geltend zu machen, 
auf den die Vorschriften über die persönliche Zuständigkeit passen. Wenn in bürgerlichen 
Rechtsstreitigkeiten eine Vereinbarung über die Zuständigkeit stattfinden kann (Civil- 
prozeßordnung 88 38 ff.), in Strafsachen die Einrede der Unzuständigkeit bei nicht recht- 
zeitiger Geltendmachung verloren geht (Strafprozeßordnung § 16), so wird durch diese 
Möglichkeit einer Parteieinwirkung auf die Zuständigkeit niemand seinem gesetzlichen 
Richter „entzogen". Und wenn einer der Fälle des Gesetzes vorliegt, in denen die vor- 
gesetzte Instanz das zuständige Gericht zu bestimmen hat (Civilprozeßordnung § 36, 
Strafprozeßordnung §§ 14, 15, Konkursordnung §8 64, 65), oder wenn nach den Be- 
stimmungen über Stellvertretung ein Richter an die Stelle eines andern tritt, so wird 
durch die im Gesetze vorgesehene Thätigkeit des oberen Gerichts das bestimmte Gericht 
zum zuständigen, und der stellvertretende Richter ist ein „gesetzlicher“. Jede Willkür 
bleibt hierbei ausgeschlossen. 
Die Ausnahme im Schlußsatz des § 16 des Gerichtsverfassungsgesetzes ist bedingt 
durch Art. 68 der Reichsverfassung und für Art. 7 der Verfassungsurkunde ausgesprochen 
in Art. 111. Uebrigens greifen zwar Kriegsgerichte und Standrechte außerhalb des 
allgemeinen geordneten Gerichtsstandes ein, sind aber keine ziubnafmegerscht für die 
vor dieselben zu ziehenden Personen, weil sie für Jeden zuständig sind, der unter die 
allgemeinen Bestimmungen des Kriegszustandes oder Standrechtes fällt. 
Artikel 8. 
Strafen können nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht 
oder verhängt werden. 
A. Das Strafgesetzbuch bestimmt in 
§ 2 Abs. 1. 
Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn 
diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. 
Die Interpretation dieser Vorschrift kommt zu folgendem Resultat: 
1. Strafgesetze haben keine rückwirkende Kraft. Eine Handlung kann daher nicht mit 
einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe nicht gesetzlich bestimmt war, bevor 
die Handlung begangen wurde. 
2. Durch das Erforderniß der gesetzlichen Bestimmung der Strafe ist dem Gewohnheits- 
recht seine rechtschaffende Kraft im Gebiete des Strafrechts genommen, und ebenso 
ist es unzulässig, eine Strafbestimmung im Wege der Analogie abzuleiten. 
3. Die Strafe ist gesetzlich bestimmt, wenn sie durch einen in verfassungsmäßiger Weise 
zu Stande gekommenen gesetzgeberischen Erlaß — Gesetz oder Königliche Verordnung 
— oder auf Grund und in Gemäßheit einer gesetzlichen Vorschrift durch eine dazu 
berufene Behörde angedroht ist. 
4. Die angedrohte Strafe darf keine sog. willkürliche, d. h. absolut unbestimmte sein. 
Dieses Resultat ist auch für Art. 8 maßgebend, da die reichsgesetzliche Bestimmung 
der landesgesetzlichen vorgeht, kommt aber, da Art. 8 nicht in einem Strasgesetz, 
sondern in einer Verfassungsurkunde steht, hier nur in seinem dritten Theil in Be- 
tracht. Art. 8 besagt also, daß Strafen nur durch einen in verfassungsmäßiger 
Weise zu Stande gekommenen gesetzgeberischen Erlaß, also Gesetz oder Königliche 
Verordnung, oder auf Grund und in Gemäßheit einer gesetzlichen Vorschrift durch eine 
dazu berufene Behörde angedroht oder verhängt werden können. Eine Strafan- 
drohung und eine Strafverhängung, welche weder unmittelbar noch mittelbar auf 
ein Gesetz sich stützen, sind verfassungswidrig. Ob die Behörde ein Gericht oder 
eine Verwaltungsbehörde ist, macht keinen Unterschied. 
B. Die Exekutivstrafen, — siehe Anmerk. C 3 zu Art. 5, oben § 8 S. 58/60 — sind 
ein Ausfluß der behördlichen Amtsgewalt. Dies gilt insbesondere von der Exekutiv- 
gewalt der Verwaltungsbehörden. Dieselbe ist in Preußen niemals für sämmtliche Be- 
hörden gesetzlich geregelt, sondern immer für eine selbstverständliche erachtet worden. 
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