I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 12.
Artikel 12.
Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu
Religionsgesellschaften (Art. 30 und 31) und der gemeinsamen häus-
lichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet. Der Ge-
nuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig
von dem religiösen Bekenntnisse. Den bürgerlichen und staatsbürger-
lichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein
Abbruch geschehen.
A. Das Allgemeine Landrecht — 88§ 1 bis 8, 10 II 11 (Von den Rechten und Pflichten
der Kirchen und geistlichen Gesellschaften) — bestimmt über die Glaubens= und Religions=
freiheit folgendes:
8 1. Die Begriffe der Einwohner des Staates von Gott und göttlichen Dingen,
der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangs-
gesetzen sein.
§ 2. Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubens= und
Gewissensfreiheit gestattet werden.
§ 3. Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinungen in Religionssachen
Vorschriften vom Staate anzunehmen.
§ 4. Niemand soll wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur Rechen-
schaft gezogen, verspottet oder gar verfolgt werden.
8§ 5. Auch der Staat kann von einem einzelnen Unterthan die Angabe, zu welcher
Religionspartei sich derselbe bekennt, nur alsdann fordern, wenn die Kraft und
Gültigkeit gewisser bürgerlicher Handlungen davon abhängt.
§ 6. Aber selbst in diesem Falle können mit dem Geständnisse abweichender
Meinungen nur dieienigen nachtheiligen Folgen für den Gestehenden verbunden
werden, welche aus seiner dadurch, vermöge der Gesetze, begründeten Unfähigkeit
zu gewissen bürgerlichen Handlungen oder Rechten von selbst fließen.
§ 7. Jeder Hausvater kann seinen häuslichen Gottesdienst nach Gutbefinden
anordnen.
§8. Er kann aber Mitglieder, die einer anderen Religionspartei zugethan
sind, zur Beiwohnung desselben wider ihren Willen nicht anhalten.
§ 10. Wohl aber können mehrere Einwohner des Staates, unter dessen
Genehmigung, zu Religionsübung sich verbinden.
Diese Bestimmungen sind bestätigt durch das Patent, die Bildung Sneuer
Religionsgesellschaften betreffend, vom 30. März 1847 (Ges.-Samml. S. 121),
in dessen Eingang der Monarch erklärt:
daß, sowie Wir einerseits entschlossen sind, den in Unsern Staaten geschichtlich und
nach Staatsverträgen bevorrechteten Kirchen, der evangelischen und der römisch-
katholischen, nach wie vor Unsern kräftigsten landesherrlichen Schutz angedeihen zu
lassen, und sie in dem Genusse ihrer besonderen Gerechtsame zu erhalten, es anderer-
seits ebenso Unser unabänderlicher Wille ist, Unseren Unterthanen die in dem All-
gemeinen Landrechte ausgesprochene Glaubens= und Gewissensfreiheit unverkümmert
zu erhalten, auch ihnen nach Maßgabe der allgemeinen Landesgesetze die Freiheit
der Vereinigung zu einem gemeinsamen Bekenntnisse und Gottesdienste zu gestatten.
Angehängt ist dem Patent eine vom Staatsministerium angefertigte, zwar nicht
ganz korrekte (v. Rönne Bd. 2 § 142 S. 154 Anmerk. 1), aber immerhin lehrreiche
„Zusammenstellung der in dem Allgemeinen Landrecht enthaltenen Bestimmungen über
Glaubens= und Religionefreiheit.“"
Somit ist der Grundsatz der Glaubens= und Gewissensfreiheit, sowie der Freiheit
des Gottesdienstes von der Verfassungsurkunde keineswegs zuerst aufgestellt, sondern
nur als ein im Preußischen Staate längst anerkannter und gesetzlich ausgesprochener zu
einem staatsgrundgesetzlichen erhoben, also mit dem Schutz des Art. 107 ausgestattet worden.
Der Art. 12 gewährleistet drei wesentliche, in der Religionsfreiheit begriffene Rechte, nämlich:
1. die Freiheit des Religionsbekenntnisses,
2. die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften,
3. die Freiheit der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung.