Full text: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850.

76 I. Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850. Art. 13. 
als nicht dem Rechte Einzelner oder der Gesammtheit dadurch Eintrag gethan oder 
die Verfassung und der einheitliche Organismus des Staates dadurch gestört wird. 
Ein Bürger, dessen religiöse Ueberzeugungen unvereinbar sind mit dem rechtlich be- 
stehenden Staate, kann wegen dieser subiektiven Auffassung weder eine Veränderung 
des der Gesammtheit passenden Staatsgedankens verlangen noch straflos ungehorsam 
sein. Ihm bleibt nichts übrig, als den Staat zu verlassen. Und auch ein ganzer 
religiöser Verein (Kirche oder Sekte), dessen Lehre oder äußere Einrichtung unver- 
einbar ist mit dem Gedanken des Rechtsstaates oder mit der Verfassung im konkreten 
Falle, hat so wenig ein Recht, sich aufzudrängen, als irgend eine andere gesellschaft- 
liche mit den Staatszwecken unvereinbare Gestaltung. Hat er so großen Umfang 
und so tiefen Einfluß, daß er eine seiner Auffassung gemäßere Staatsgattung herbei- 
zuführen im Stande ist, so mag er dafür auf gesetzlichem Wege wirken; bis dahin 
aber hat sich die Minderzahl zu fügen, und der sittliche Grund der abweichenden 
Ansicht giebt keine Berechtigung zum Ungehorsam gegen das bestehende Gesetz. 
D. In Art. 12 ist die Stellung des Staates den Kirchen und Religionsgesellschaften gegen- 
über nur als eine negative gefaßt, aber es fließen aus ihr positive Rechte für den 
Staat. Die Gesammtheit dieser dem Staate zustehenden Rechte wird mit dem Namen 
Kirchenhoheit (Jus majestaticum eirca sacra) bezeichnet. Die Kirchenhoheit umfaßt 
1) das Aufsichtsrecht (jus inspiciendi), das Recht der Aufsicht und Vorkehr, daß 
die Kirchen die Grenzen ihrer Aufgabe innehalten, daß keine derselben das staatliche 
Leben gefährde oder das Recht anderer Religionsgemeinschaften kränke oder in Miß- 
bräuche verfalle; 
2) das Schutzrecht (jus advocatiae), das Recht und die Pflicht, die Kirchen zu 
fördern und im Genuß der ihnen garantirten Rechte unter Darleihung seiner Zwangs- 
gewalt zu sichern, mit dem Vorbehalt, alle Anordnungen der Kirchengewalt, welche mit 
seiner Hilfe in dem bürgerlichen Gebiete geschützt werden sollen, auch von seinem Stand- 
punkte aus zu prüfen und danach seine Entscheidung zu bemessen. Er unterstützt sie 
nicht bloß in ihren vermögensrechtlichen Angelegenheiten, z. B. in Beitreibung der 
Kirchensteuern, sondern gewährt ihnen auch strafrechtlichen und polizeilichen Schutz. Mit 
Strafe wird bedroht, wer Gott lästert, wer eine der christlichen Kirchen oder eine mit 
Korporationsrechten bekleidete Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche 
beschimpft, wer in einer Kirche oder in einem anderen, zu religiösen Versammlungen 
bestimmten Orte beschimpfenden Unsug verübt, wer den Gottesdienst oder einzelne gottes- 
dienstliche Verrichtungen einer im Staate bestehenden Religionsgesellschaft hindert oder 
stört, wer unbefugt ein Grab zerstört oder beschädigt oder an einem Grabe beschimpfenden 
Unfug verübt, wer Sachen, die dem Gottesdienste gewidmet sind, oder Grabmäler be- 
schädigt oder zerstört. wer den gegen die Störung der Feier der Sonn= und Festtage 
erlassenen Anordnungen zuwiderhandelt (Strafgesetzbuch 88 166, 167, 168, 304, 366 
Nr. 1). Durch die Kabinetsordre vom 7. Februar 1837 über die Befugniß der Behörden, 
durch polizeiliche Bestimmungen die äußere Heilighaltung der Sonn= und Festtage zu 
bewahren (Ges.-Samml. 19), ist den Bezirksregierungen, jetzt den Oberpräsidenten, 
bezw. Fegierungsprösidenten die Befugniß ertheilt worden, die nach den Verhältnissen 
der einzelnen Orte oder Gegenden ihres Bezirkes zu diesem Zwecke erforderlichen An- 
ordnungen zu erlassen. Die gleiche Befugniß ist den Oberpräsidenten und Regierungs- 
präsidenten durch das Gesetz, betreffend die äußere Heilighaltung der Sonn= und Festtage 
in den Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau, sowie in den Hohen- 
zollern'schen Landen, vom 9. Mai 1892 (Ges.-Samml. S. 107), unter Aufhebung aller 
älteren Bestimmungen für die genannten Gebiete ertheilt. Eine Zuständigkeit der Orts- 
polizeibehörden, bezw. die Zulässigkeit der Delegationsbefugniß auf diese ist zu verneinen. 
Jedoch haben die Ortspolizeibehörden auch auf diesem Gebiete das zur Aufrechterhaltung 
der öffentlichen Ruhe und Sicherheit Erforderliche wahrzunehmen. (Oberverwaltungs- 
gericht 3. Dezember 1887, Entsch. Bd. 16 S. 387.) 
Artikel 13. 
Die Religionsgesellschaften, sowie die geistlichen Gesellschaften, 
welche keine Korporationsrechte haben, können diese Rechte nur durch 
besondere Gesetze erlangen. 
A. Das Allgemeine Landrecht Th. II. Tit. 11 §§ 17 ff. unterscheidet 
1. ausdrücklich aufgenommene Kirchengesellschaften (ecclesiae absolute receptae)
	        
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