Full text: Commentar zur Verfassungs-Urkunde für das Deutsche Reich.

6 Einleitung. 
zwischen dem internationalen und dem staatsrechtlichen Staatenbunde scharf 
ausprägen. Denn da die äußeren Hoheitsrechte regelmäßig dem Herrscher 
unbeschränkt zustehen, während er bei der Ausübung der inneren Hoheitsrechte 
meist an die Mitwirkung der Volksvertretung gebunden ist, so wird beim 
internationalen Bunde das gemeinsame Organ der Regierungen allein die 
Bundesangelegenheiten wahrnehmen, beim staatsrechtlichen Bunde dagegen dem 
gemeinsamen Organe der Bundesregierungen eine gemeinsame Volksvertretung 
zur Seite stehen. Man kann in diesem Falle nicht unpassend von einem 
constitutionellen Staatenbunde sprechen. Ein solcher ist das 
Deutsche Reich. 
V. Die neuere Entwickelung der Lehre vom Bundesstaate. 
Ich habe im Bisherigen die Ausführungen unverändert gelassen, welche 
die erste Auflage dieses Commentars einleiteten. Sie entsprechen noch heute 
meiner wissenschaftlichen Ueberzeugung. Die Lehre vom Bundesstaate aber hat 
seitdem eine völlig andere Richtung genommen. 
Ich darf es wohl als einen unbestrittenen Erfolg meines Angriffes auf 
die Lehre von Waitz bezeichnen, daß die Unbeschränkbarkeit und Untheilbar- 
keit der Souveränetät wieder allgemein zur Anerkennung gelangte. Die noth- 
wendige Folge war, daß die bisher maßgebend gewesene Lehre vom Bundes- 
staate preisgegeben wurde. Aber auf den Bundesstaatsbegriff glaubte man 
nicht verzichten zu können, und so erwuchs denn die Aufgabe, diesen Begriff 
so umzuarbeiten, daß er mit dem Souveränetätsbegriffe nicht in Widerspruch 
kam. Das war und ist meines Erachtens ein aussichtsloses Unternehmen. 
Eine unanfechtbare Lehre vom Bundesstaate ist ebenso wenig zu finden, wie 
die Quadratur des Kreises. Und daher kömmt es auch, daß von den neuen 
Bundesstaatstheorien jene, die zuerst aufgetreten sind, am durchsichtigsten sich 
darstellen. Die folgenden Theorien aber gelangen, indem sie die erkannten 
Fehler der Vorgänger zu vermeiden suchen, zu immer größerer Verkünstelung. 
Es würde über die Grenzen weit hinausgehen, die dieser Einleitung ge- 
steckt sind, wenn ich all diese neuen Lehrmeinungen hier einer kritischen 
Würdigung unterziehen wollte. Ich kann dies auch um so mehr unterlassen, 
als solche Uebersichten über die Entwickelung der Lehre vom Bundesstaate von 
mehreren Schriftstellern bereits gegeben worden sind, von jedem, wie begreif- 
lich, unter der Beleuchtung der eigenen Ansicht. Sieh z. B. P. Laband, 
Staatsrecht des Deutschen Reiches, 3. Aufl., 1 S. 56 ff., A. Hänel, 
Deutsches Staatsrecht I S. 200 ff., H. Preuß, Gemeinde, Staat, Reich 
als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 33 ff. Eine Auseinandersetzung 
mit Hänel's und Laband's Lehren habe ich in meinem Aussatze: 
Die neuesten Gestaltungen des Bundesstaatsbegriffs versucht. (Annalen des