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Verfassungsstreitigkeiten im engeren Sinne sind endlich
auch Streitigkeiten über die Rechtsbeständigkeit einer Ver-
fassung.1?) Auch sind hierher zu rechnen Streitigkeiten über
die Aufhebung der Verfassung oder einer Verfassungs-
bestimmung, aber nur, soweit es sich um Rechtsstreitig-
keiten 2°) dieser Art handelte Es mag hier bemerkt werden,
dass, wenn die Aufhebung der Verfassung in gültiger Weise
erfolgt, der Bundesrat auf Grund der Bestimmung des
Artikel 76 Abs. 2 der Reichsverfassung zur Ausübung eines
Zwanges auf Wiedereinführung einer Verfassung nicht befugt
is. Die Frage, ob in diesem Falle ein Einschreiten des
Bundesrates auf Grund des Artikel 19 zulässig ist, fällt nicht
in den Rahmen dieser Arbeit.?!)
Demgegenüber liegt der Fall eines Verfassungsbruches
vor bei einer tatsächlichen Ausserkraftsetzung der Verfassung
oder einer Verfassungsbestimmung,??) also bei der Anwendung
verfassungswidriger Normen oder bei der Ausserachtlassung
bzw. Nichtbefolgung verfassungsmässiger Vorschriften.
Schliesslich bleibt hervorzuheben, dass Gegenstand eines
Verfassungsstreites niemals Ansprüche aus dem Privat- oder
Strafrecht sein können. So liegt, falls bei einer Verfassungs-
verletzung das Verschulden einer Person, insbesondere eines
Beamten, zu Beschwerden Anlass gibt, der Fall einer Ver-
fassungsstreitigkeit nicht vor. Vielmehr ist bei Anklagen
gegen einen Beamten, insbesondere den Minister, wegen
Verletzung der Verfassung ein von dem im Artikel 76 Abs. 2
vorgeschriebenen grundsätzlich verschiedenes Verfahren zu
beobachten. Verschiedene Bundesstaaten haben für die so-
genannten Ministeranklagen einen besonderen Gerichtsstand
19) Vgl. v. Martitz, Betrachtungen $. 30.
20) Nicht politische Streitigkeiten, „da es ein Recht auf Aenderung
der Verfassung nicht gibt“. Vgl. v.Seydel im Jahrbuch für Gesetzgebung
usw. N.F. III S. 290, 3).
2!) Man wird die Frage zu bejahen haben, da die Reichsverfassung
das Bestehen einer Verfassung in jedem Bundesstaate voraussetzt und die
Aufhebung derselben als Verletzung einer verfassungsmässigen Pflicht an-
zusehen ist.
22) Vgl. Haenel, Staatsrecht S. 567.