96 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
auch eine ungeahnte bildsame Weichheit und Schmiegsamkeit. Sie allein
unter den neuen Cultursprachen erwies sich fähig, alle Versmaße der
Hellenen treu und lebendig nachzubilden; sie wurde allmählich, seit der
Vossische Homer den Weg gewiesen, die erste Uebersetzersprache der Welt,
bot den Gestalten der Dichtung aller Völker und Zeiten gastfreundlich
eine zweite Heimath. Und diese reizbare Empfänglichkeit war doch nicht
unselbständige Schwäche: die deutschen Jünger des Alterthums standen
dem classischen Ideale innerlich frei gegenüber, sie ließen sich nicht, wie
einst die Humanisten am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts, durch
die sittlichen Anschauungen der antiken Welt in der festen Führung des
eigenen Lebens beirren. Winckelmann selber freilich erinnert in manchem
Zuge an die unbefangenen Heiden des Cinquecento; aber die Mehrzahl
der Dichter und Denker, die seinen Spuren folgten, blieb deutsch, nahm
von hellenischer Bildung nur an, was deutschem Wesen zusagte, und das
Gedicht, das unter allen Werken der modernen Kunst dem Geiste des
Alterthums am nächsten kam, Goethe's Iphigenie ward doch durchweht
von einem Sinne liebevoller Milde, den die Herzenshärtigkeit der Heiden
nie verstanden hätte.
Unabhängig von diesen beiden Richtungen, aber einig mit ihnen in
dem Kampfe für das Recht des freien Künstlergeistes, ging Lessing seinen
Wegj der productivste Kritiker aller Zeiten, stand er zu Klopstocks pathe-
tischer Ueberschwänglichkeit, wie einst Pufendorf und Thomasius zu dem
Pietismus gestanden hatten, ablehnend zugleich und ergänzend. Seiner
schöpferischen Kritik gelang, was der Enthusiasmus der neuen Lyrik allein
nie vermocht hätte, die gespreizte Unnatur der Gottschedischen Verskunst
für immer zu vernichten, die Zwittergattung der Lehrgedichte vom deut-
schen Parnaß zu vertreiben, die Nation zu befreien von dem Joche der
Kunstregeln Boileau's. Und so wenig wir dem Manne, der den Patrio-
tismus für eine heroische Schwachheit erklärte, das bewußte vaterländische
Gefühl unserer Tage andichten dürfen: durch jene mächtigen Streit-
schriften, welche die Dramen Voltaire's dem Gelächter der Deutschen
preisgaben, geht doch derselbe große Zug erstarkenden nationalen Lebens
wie durch Friedrich's Heldenlaufbahn. Lessing's Kritik wies die deutschen
Poeten von der höfischen Dichtung der Bourbonen hinweg zu dem recht
verstandenen Aristoteles, zu den einfachen Vorbildern der antiken Kunst
und lehrte sie, die naturgetreue Wahrheit über alle erklügelten Regeln
zu stellen. Sie zeigte ihnen in Shakespeare's Dramatik einen Quell
ursprünglichen germanischen Lebens, der ein Jungbrunnen wurde für
die deutsche Kunst; der Dichter des fröhlichen alten Englands fand bei
dem weltlich freien Sinne der Deutschen bald ein tieferes Verständniß,
als in seinem eigenen, durch das Puritanerthum ernüchterten Vaterlande.
Lessing vor Allen hat das neue Publikum erzogen; er wurde der erste
deutsche Literat, der Erste, der durch seine persönliche Würde den Beruf des