Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

96 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
auch eine ungeahnte bildsame Weichheit und Schmiegsamkeit. Sie allein 
unter den neuen Cultursprachen erwies sich fähig, alle Versmaße der 
Hellenen treu und lebendig nachzubilden; sie wurde allmählich, seit der 
Vossische Homer den Weg gewiesen, die erste Uebersetzersprache der Welt, 
bot den Gestalten der Dichtung aller Völker und Zeiten gastfreundlich 
eine zweite Heimath. Und diese reizbare Empfänglichkeit war doch nicht 
unselbständige Schwäche: die deutschen Jünger des Alterthums standen 
dem classischen Ideale innerlich frei gegenüber, sie ließen sich nicht, wie 
einst die Humanisten am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts, durch 
die sittlichen Anschauungen der antiken Welt in der festen Führung des 
eigenen Lebens beirren. Winckelmann selber freilich erinnert in manchem 
Zuge an die unbefangenen Heiden des Cinquecento; aber die Mehrzahl 
der Dichter und Denker, die seinen Spuren folgten, blieb deutsch, nahm 
von hellenischer Bildung nur an, was deutschem Wesen zusagte, und das 
Gedicht, das unter allen Werken der modernen Kunst dem Geiste des 
Alterthums am nächsten kam, Goethe's Iphigenie ward doch durchweht 
von einem Sinne liebevoller Milde, den die Herzenshärtigkeit der Heiden 
nie verstanden hätte. 
Unabhängig von diesen beiden Richtungen, aber einig mit ihnen in 
dem Kampfe für das Recht des freien Künstlergeistes, ging Lessing seinen 
Wegj der productivste Kritiker aller Zeiten, stand er zu Klopstocks pathe- 
tischer Ueberschwänglichkeit, wie einst Pufendorf und Thomasius zu dem 
Pietismus gestanden hatten, ablehnend zugleich und ergänzend. Seiner 
schöpferischen Kritik gelang, was der Enthusiasmus der neuen Lyrik allein 
nie vermocht hätte, die gespreizte Unnatur der Gottschedischen Verskunst 
für immer zu vernichten, die Zwittergattung der Lehrgedichte vom deut- 
schen Parnaß zu vertreiben, die Nation zu befreien von dem Joche der 
Kunstregeln Boileau's. Und so wenig wir dem Manne, der den Patrio- 
tismus für eine heroische Schwachheit erklärte, das bewußte vaterländische 
Gefühl unserer Tage andichten dürfen: durch jene mächtigen Streit- 
schriften, welche die Dramen Voltaire's dem Gelächter der Deutschen 
preisgaben, geht doch derselbe große Zug erstarkenden nationalen Lebens 
wie durch Friedrich's Heldenlaufbahn. Lessing's Kritik wies die deutschen 
Poeten von der höfischen Dichtung der Bourbonen hinweg zu dem recht 
verstandenen Aristoteles, zu den einfachen Vorbildern der antiken Kunst 
und lehrte sie, die naturgetreue Wahrheit über alle erklügelten Regeln 
zu stellen. Sie zeigte ihnen in Shakespeare's Dramatik einen Quell 
ursprünglichen germanischen Lebens, der ein Jungbrunnen wurde für 
die deutsche Kunst; der Dichter des fröhlichen alten Englands fand bei 
dem weltlich freien Sinne der Deutschen bald ein tieferes Verständniß, 
als in seinem eigenen, durch das Puritanerthum ernüchterten Vaterlande. 
Lessing vor Allen hat das neue Publikum erzogen; er wurde der erste 
deutsche Literat, der Erste, der durch seine persönliche Würde den Beruf des
	        
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