98 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
alle Menschenkinder nur „für das was wir Cultur nennen“ geschaffen
glaubte; er erkannte, daß jedes Volk sein eigenes Maß der Glückselig-
keit, sein eigenes goldenes Zeitalter hat, und mit wunderbarem Ahnungs-
vermögen fand er das Eigenste aus dem Seelenleben der Völker heraus:
der Gegensatz der naiven Cultur des Alterthums und der sentimentalen
Bildung der modernen Welt ist ihm zuerst klar geworden. Seinem
prophetischen Blicke enthüllte sich schon der Zusammenhang von Natur
und Geschichte; er faßte den grandiosen Gedanken „dem Schöpfer nach-
zugehen, nachzusinnen“, die Offenbarung Gottes in den weltbauenden
Kräften des Alls wie in den Wandlungen der Menschengeschichte aufzu-
suchen; er vertiefte die Idee der Humanität, indem er den Menschen ver-
stand als einen „Ton im Chorgesang der Schöpfung, ein lebend Rad im
Werke der Natur“. Schärfer als Herder hat kein Mann des achtzehnten
Jahrhunderts über die endlichen Erscheinungsformen des Christenthums
geurtheilt, und doch ist Keiner in das Verständniß des Glaubens tiefer
eingedrungen als dieser von Grund aus religiöse Geist. Die Religion
zu reinigen von allem geistlosen und unfreien Wesen blieb das höchste
Ziel seines Strebens. Durch jede seiner Schriften weht der Hauch einer
tiefen Frömmigkeit, ein inniges, glückseliges Zutrauen zu der Weisheit
und Güte Gottes, das alle Launen einer selbstquälerischen, leicht verstimm-
ten Natur schließlich niederzwingt; darum konnte der schonungslose Be-
kämpfer der Verirrungen der Kirche ohne Heuchelei ein hoher Geistlicher
und Kirchenbeamter bleiben — ein glänzendes Zeugniß für die maßvolle
Freiheit des Zeitalters.
Die neue universale Bildung, welcher Herder's kühne Ahnungen und
Andeutungen nur den Weg wiesen, empfing nun endlich ihre reine künst-
lerische Form durch den sprachgewaltigen Dichter, dem ein Gott gab zu
sagen was er litt. Diese geheimnißvolle Macht der unmittelbaren Ein-
gebung war es, was die Zeitgenossen zuerst an dem jungen Goethe be-
wunderten. Bald fühlten sie auch die Kraft seiner unendlichen Liebe, seiner
unerschöpflichen Empfänglichkeit für alles Menschliche. Es klang wie ein
Selbstgeständniß, wenn er seinen Gottessohn sagen ließ: „O mein Ge-
schlecht, wie sehn' ich mich nach dir! und du, mit Herz= und Liebesarmen
flehst du aus tiefem Drang zu mir.“ Er dichtete nur Erlebtes gleich den
Sängern der Zeitalter naiver Kunst; doch dieser Geist war so reich und
vielgestaltig, daß seine Dichtung nach und nach den weiten Umkreis des
deutschen Lebens umspannte, und während langer Jahrzehnte fast jeder
neue Gedanke, den die rastlos schaffende Zeit emporwarf, in Goethe's Werken
seinen tiefsten und mächtigsten Ausdruck fand, bis endlich die ganze Welt
der Natur und des Menschenlebens in dem ruhigen Auge des Greises sich
widerspiegelte; und so ist ihm geworden was er sich wünschte, daß heute
noch da Enkel um ihn trauern, zu ihrer Lust noch seine Liebe dauert. Im
sicheren Bewußtsein einer ungeheuren Begabung trat er seine Laufbahn