Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Einkehr in das deutsche Leben. 209 
in den Mythen des altgermanischen Heidenthums noch ein unerschöpflicher 
Schatz gemüthvollen Tiefsinns verborgen liege. Johannes Müller gab in 
seiner Schweizergeschichte zum ersten male eine ausführliche Schilderung 
mittelalterlichen Lebens, die trotz ihrer geschraubten und gesuchten Rhetorik 
doch tief und lebendig war und eine Menge neuer Gesichtspunkte aufstellte; 
er war es auch, der zuerst auf die heldenhafte Großheit des Nibelungen— 
liedes hinwies. Im Jahre 1803 erschien Tieck's Sammlung der deutschen 
Minnelieder. Drei Jahre darauf ließ Schenkendorf seinen Hilferuf er— 
schallen gegen die Nützlichkeitsbarbaren, die sich an dem altehrwürdigen 
Hochmeisterschlosse zu Marienburg vergreifen wollten; die vielverspottete 
Gothik wurde jetzt unter dem Namen der altdeutschen Baukunst gepriesen. 
So begann von allen Seiten her die Einkehr in das deutsche Leben; ein 
großer Umschwung kündigte sich an, der bald nachher durch den Druck des 
fremden Joches, durch das Erwachen des Nationalhasses beschleunigt wurde. 
Die ästhetische Freude am Alten und Volksthümlichen machte die Romantiker 
zu Gegnern der Revolution; sie haßten „den glattgewalzten Rasen“ der 
modernen Rechtsgleichheit, sie haßten das Naturrecht, das die schöne Man— 
nigfaltigkeit der historischen Erscheinungen unter die Scheere seiner kahlen 
Regeln nahm, sie verabscheuten das neue Weltreich, das den Reichthum natio— 
naler Staats- und Rechtsbildungen zu zerstören drohte. Es geschah zum 
ersten male in aller Geschichte und konnte nur in einem so durchaus idealisti— 
schen Volke geschehen, daß eine ursprünglich rein ästhetische Bewegung die 
politischen Anschauungen verjüngte und umgestaltete. Für dies Geschlecht 
war die Poesie wirklich der Ocean, dem Alles entströmte. Wenn Wissenschaft, 
Glauben und Kunst als die nothwendigen Gebilde des Volksgeistes verstan— 
den werden sollten, so doch sicherlich auch Recht und Staat; früher oder 
später mußte dieser nothwendige Schluß gezogen und der Gedanke des 
nationalen Staates für die deutsche Wissenschaft erobert werden. Die Ver— 
bindung zwischen Friedrich Gentz und der romantischen Schule beruhte 
auf dem Gefühle einer tiefen inneren Verwandtschaft, und geradeswegs 
aus den geschichtsphilosophischen Ideen und Ahnungen der Romantiker ist 
nachher die historische Staatslehre Niebuhr's und Savigny's hervorgegangen. 
Ebenso folgenreich wurde die Wiederbelebung des religiösen Gefühls, 
die sich in dem jungen Geschlechte vorbereitete. Die classische Dichtung hielt 
sich dem kirchlichen Leben fern; sie wollte „aus Religion" keine der bestehen- 
den Religionen bekennen, obgleich sie mit den sittlichen Grundgedanken 
des Protestantismus innig verwachsen war. Kant sah in der Religion 
die Erkenntniß unserer Pflichten als göttlicher Gebote, die Aufnahme des 
Göttlichen in den Willen; seine erhabene Strenge wurde den Gefühlen des 
gläubigen Herzens, dem Drange der Erhebung und Ergebung nicht völlig 
gerecht. Eben diese wunderbare Welt des Gefühles, der ahnenden Sehn- 
sucht zog die Blicke der Romantiker unwiderstehlich an. Während ihre 
Schwarmgeister an der sinnlichen Schönheit des katholischen Cultus sich 
v. Treitschke, Deutsche Eeschichte. I. 14
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.