Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

18 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
Hauses zu mehren, sondern sich redlich bemühten in ihren engen Gebieten 
die politischen Pflichten zu erfüllen, denen das Reich sich versagte. Das 
Kaiserhaus lebte seinen europäischen Plänen, der Reichstag haderte um 
leere Formen; in den Territorien wurde regiert. Hier allein fanden 
das Recht, der Wohlstand, die Bildung des deutschen Volkes Schutz und 
Pflege. Unsere Fürsten hatten einst das Kleinod deutscher Geistesfreiheit 
gerettet im Kampfe gegen das Haus Habsburg. In der langen matten 
Friedenszeit nachher blühte jene treufleißige Kurfürstenpolitik, die, jedes 
großen Gedankens baar, ängstlich zurückschreckend vor den geschwinden 
Händeln der europäischen Kämpfe, ihre wohlwollende Sorgfalt allein dem 
Gedeihen des eignen Ländchens widmete. Die durch wunderliche Glücks- 
fälle zusammengewürfelten Ländertrümmer verwuchsen nach und nach zu 
einer kümmerlichen politischen Gemeinschaft. Die Territorien wurden zu 
Staaten. In der Enge ihres Sonderlebens bildete sich ein neuer Parti- 
cularismus. Der Kursachse, der Kurpfälzer, der Braunschweig-Lüne- 
burger hing mit fester Treue an dem angestammten Fürstenhause, das 
so lange Freud' und Leid mit seinem Völkchen getheilt. In der Hand 
der landesfürstlichen Obrigkeit lag sein und seiner Kinder Glück; das 
große Vaterland ward ihm zu einer dunklen Sage. Nach dem dreißig- 
jährigen Kriege waren es wieder die Landesherren, nicht Kaiser und Reich, 
die dem Bürger und Bauern halfen seine verwüsteten Wohnplätze auf- 
zubauen, kärgliche Trümmer des alten Wohlstandes aus der großen Zer- 
störung zu retten; ihrem Karl Ludwig dankte die Pfalz die Wiederkehr 
froherer Tage. Das weltliche Fürstenthum, das mit seiner dreisten Selbst- 
sucht jedes Band nationaler Gemeinschaft zu zersprengen drohte, stand 
doch rührig und wirksam mitten im Leben der Nation. War ein Neu- 
bau des deutschen Gesammtstaates noch möglich, so konnte er nur auf 
dem Boden dieser Territorialgewalten sich erheben. — 
In solchem Chaos von Widersprüchen hatte jede Institution des 
Reichs ihren Sinn, jedes Recht seine Sicherheit verloren. Der Mehrer 
des Reichs mehrte seine Hausmacht zu Deutschlands Schaden. Das ehr- 
würdige Amt des Reichskanzlers in Germanien, der vormals der natürliche 
Führer der Nation in allen ihren Verfassungskämpfen gewesen, ward in 
den Händen des Mainzer Erzbischofs nach und nach ein gefügiges Werk- 
zeug österreichisch-katholischer Parteipolitik. Die Wahlcapitulation, vor 
Zeiten bestimmt den dynastischen Mißbrauch der kaiserlichen Gewalt zu 
verhindern, diente jetzt die dynastische Willkür der Landesherren von jedem 
Zwange zu entfesseln. Der Reichstag hatte sich gleich den Generalstaaten 
der Niederlande aus einer Ständeversammlung thatsächlich in einen 
Bundestag verwandelt und vermochte doch niemals, wie jene, ein gesundes 
bündisches Leben auszubilden. Ueberall widersprachen die Formen des 
Rechtes den lebendigen Mächten der Geschichte. Die Reichsverfassung legte 
das Recht der Mehrheit in die Hand der schwächsten Stände; sie zwang
	        
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