Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

318 I. 3. Preußens Erhebung. 
friedsamen Völkchen gelebt, einen deutschen Volkskrieg für möglich halten? 
Schon die Mitlebenden empfanden es schmerzlich, und in alle Zukunft 
wird es den Deutschen eine traurige Erinnerung bleiben, daß unser 
größter Dichter in dem Feinde seines Vaterlandes nichts sehen wollte als 
den großen Mann, daß er zu alt war um die wunderbare, heilvolle 
Wandlung, die über sein Volk gekommen, ganz zu verstehen. Wie fühlte er 
sich so einsam seit Schiller's Tode. Wehmüthig der lieben Schatten froher 
Tage gedenkend ließ er das Lieblingswerk seines Lebens in die unbekannte 
Menge hinausgehen. Als anderthalb Jahrzehnte früher einige Bruchstücke 
daraus erschienen waren, hatte Niemand viel Aufhebens davon gemacht. 
Und doch schlug das Gedicht jetzt ein, zündend, unwiderstehlich, wie 
einst der Werther — als wären diese Zeilen, über denen der Dichter alt 
geworden, erst heute und für den heutigen Tag ersonnen. Die bange 
Frage, ob es denn wirklich aus sei mit dem alten Deutschland, lag auf 
Aller Lippen; und nun, mitten im Niedergange der Nation, plötzlich dies 
Werk — ohne jeden Vergleich die Krone der gesammten modernen Dich- 
tung Europas — und die beglückende Gewißheit, daß nur ein Deutscher 
so schreiben konnte, daß dieser Dichter unser war und seine Gestalten von 
unserem Fleisch und Blut! Es war wic ein Wink des Schicksals, daß 
die Gesittung der Welt unser doch nicht entbehren könne, und Gott noch 
Großes vorhabe mit diesem Volke. Schon Schiller hatte dem Drama 
höhere Aufgaben gestellt als Shakespeare, obwohl er die grandiose Ge- 
staltungskraft des Briten nicht erreichte; die Tragödie der Leidenschaften 
genügte ihm nicht, er wollte versinnlichen, daß die Weltgeschichte das 
Weltgericht ist. Hier aber war noch mehr; hier wurde, zum ersten male 
seit Dante, der Versuch gewagt die ganze geistige Habe des Zeitalters 
poetisch zu gestalten. Die Conception war dem Dichter, er selbst gestand 
es, von vornherein klar; doch wie er nun die geliebten Gestalten viele 
Jahre hindurch mit sich im Herzen trug, in allen guten Stunden immer 
wieder zu ihnen heimkehrte, da wuchsen sie mit ihm und er mit ihnen. 
Das alte Puppenspiel mit seiner Derbheit und seinem Tiefsinn, seinen 
saftigen Späßen und seinen unheimlichen Schrecken erweiterte sich zu 
einem großen Weltgemälde, das freilich die Formen der dramatischen 
Kunst zersprengte, zu einem Bilde des prometheischen Dranges der Mensch- 
heit. Der Dichter legte den ganzen philosophischen Inhalt seines Zeit- 
alters darin nieder. Der moderne Poet konnte nicht wie jener Sohn des 
dreizehnten Jahrhunderts von der Höhe einer zweifellos fertigen Welt- 
anschauung herunter seinen Richterspruch fällen über die Welt. Er hatte 
dessen kein Hehl, daß er ein Strebender sei, daß er mit diesem Gedichte 
eigentlich nie zu Ende kommen könne, und eben darum wirkte seine 
Dichtung so gewaltig auf die gährende Zeit, weil sie Jeden unwillkür- 
lich zum Weiterdichten und Weitersinnen einlud. Der Grundgedanke der 
Goethischen Weltanschauung stand gleichwohl fest: die Menschheit blieb
	        
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