Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

368 I. 3. Preußens Erhebung. 
während des ostpreußischen Feldzugs hatte er ein nahezu unumschränktes 
Regiment geführt. So war durch die Gewohnheit des Befehlens nach 
und nach ein eigenrichtiger, herrschsüchtiger Zug in seinen Charakter ge- 
kommen, der zu seiner heiteren Liebenswürdigkeit wenig stimmte, doch mit 
den Jahren sich verschärfte. Menschlich genug, daß er das Bedürfniß 
fühlte, sich wegen der vergangenen Irrthümer vor der Nachwelt zu recht- 
fertigen und in seinen Denkwürdigkeiten, nicht immer ganz ehrlich, alle 
Schuld der Katastrophe des alten Staates auf andere Schultern abzu- 
wälzen suchte. Aber auch in den Tagebüchern, die nur für sein eigenes 
Auge bestimmt waren, begegnet uns fast niemals das Eingeständniß eines 
Irrthums; wer ihm widerspricht, wird mit schnöden Worten abgefertigt, 
auch den König selbst trifft oft wegwerfender Tadel, und doch hatte 
Friedrich Wilhelm's Nüchternheit bei solchen Streitigkeiten fast immer 
recht! Hardenberg blieb sein Lebelang in dem völlig grundlosen Wahne, 
seine Rigaer Denkschrift vom Herbste 1807 bilde eigentlich den Ausgangs- 
punkt für das preußische Reformwerk; er äußerte oft mit Bitterkeit, 
Andere hätten ihm den wohlverdienten Ruhm hinweggenommen. Die 
Seelengröße Stein's hat an Fragen dieser Art nie gedacht. 
Als Hardenberg jetzt in die Geschäfte zurückgerufen wurde, bedang 
er sich eine Machtvollkommenheit aus, die allerdings zum Theile durch 
die Nothlage des Staates geboten war, aber weit über das Nothwendige 
hinausging und allen Traditionen des preußischen Beamtenthums wider- 
sprach. Er wurde Staatskanzler, erhielt die oberste Leitung des gesamm- 
ten Staatswesens, übernahm die Ministerien des Innern und der Finan- 
zen unmittelbar, und da auch der Minister des Auswärtigen, Graf Goltz 
in Allem und Jedem den Befehlen des Kanzlers zu folgen hatte, so 
blieben nur die Justiz und das Kriegswesen in einiger Selbständigkeit. 
Ein festes Gehalt nahm der Staatskanzler nicht an; die Generalstaats- 
kasse zahlte was er brauchte. Wie die Dinge lagen war es ein heilvolles 
Geschick für Preußen, daß diese in jedem Sinne leichtere Natur jetzt die 
Erbschaft des Freiherrn vom Stein antrat. Der Jünger der neufranzösi- 
schen Philosophie konnte dreister, als es der Reichsritter vermocht hätte, 
die nothwendigen Folgerungen ziehen aus den Gesetzen des Jahres 1808; 
die Verschlagenheit des Diplomaten konnte gewandter als Stein's dämo- 
nische Leidenschaft durch kluges Laviren die deutschen Dinge hinhalten 
bis der offene Kampf möglich wurde. 
Die erste Sorge des Staatskanzlers ging, wie natürlich, auf die 
Abtragung der Contribution und die Wiederherstellung des Finanzwesens, 
und in diesen technischen Fragen zeigte sich's sogleich, wie gänzlich ihm die 
sichere Sachkenntniß Stein's abging. Nach der Weise geistreicher leicht- 
blütiger Dilettanten war er sehr empfänglich für weit aussehende Pro- 
jecte, wenn sie mit dem Anspruche theoretischer Unfehlbarkeit auftraten. 
Da zu jener Zeit alle Welt für die wunderbaren Leistungen der Bank
	        
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