Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

402 I. 3. Preußens Erhebung. 
Der König brauchte noch langer Zeit bis er die einzige Größe dieser 
Tage ganz begriff. Unentschlossen von Natur, tief niedergebeugt durch 
die Leiden der letzten Jahre, noch ohne herzhaftes Vertrauen zu seinem 
Volke, wußte er auch noch nicht, wie gänzlich die Gesinnung seines russi- 
schen Freundes, der ihn einst so kaltsinnig preisgegeben, schon verwandelt 
war. Nur im Bunde mit Oesterreich und gedeckt durch sichere diploma- 
tische Verträge wollte er das Ungeheuere wagen. Hardenberg sah von 
vornherein weiter; er sprach sofort aus: nöthigenfalls müsse man auch 
ohne Oesterreichs Hilfe schlagen, da diese Macht zum mindesten nicht feind- 
lich auftreten würde.' Am zweiten Weihnachtstage legte der Staats- 
kanzler sein Programm vor: er rieth, sofort zu rüsten, im Angesichte des 
Feindes und darum dem Scheine nach zu Frankreichs Gunsten. „Es ist 
von der äußersten Wichtigkeit“" — so schrieb er — „vorerst die größte An- 
hänglichkeit an Napoleon's System und Allianz zu zeigen und allen un- 
seren Maßregeln die Gestalt zu geben als ob sie für Frankreich geschähen, 
daher auch die Concentration und Vermehrung unserer Streitkräfte als 
eine Folge der französischen Anforderungen darzustellen und herauszuheben 
sein wird.““)Sein Plan war, daß Oesterreich und Preußen als be- 
waffnete Mediatoren zwischen die kriegführenden Mächte treten sollten; 
lehnte Napoleon's Hochmuth, wie vorauszusehen, die Bedingungen der 
Vermittler ab, so war der Rechtsgrund zum Kriege gegeben. Mittlerweile 
solle sich der König in das sichere Schlesien begeben und von dort aus 
zur rechten Zeit sein Volk unter die Waffen rufen. Der König geneh- 
migte Alles. Wo der neue Feldzug beginnen würde, das ließ sich freilich 
im Augenblicke noch nicht ahnen; der Staatskanzler meinte: am Rhein 
der König: in Polen und Litthauen. „Schlagen muß man und vernich- 
ten“ — so lautete Friedrich Wilhelm's Ansicht — „das aber geschieht zu- 
verlässiger im Norden als am Rhein, bis wohin Rußlands Macht nie 
mit ganzer Kraft kommen kann und beinah nicht kommen darf.““) Als 
dies unheimliche Jahr im Sterben lag, rief man in Berlin bereits die 
Beurlaubten ein, befahl die Bildung von Reservebataillonen und entwarf 
die Instruction für Knesebeck, der als Unterhändler nach Wien gehen sollte. 
Das Eis war gebrochen, und die entfesselten Fluthen des Völkerzornes 
brausten bald so gewaltig dahin, daß die Krone nicht mehr zurückweichen 
konnte. Bange Wochen vergingen noch bis man vor dem überlisteten Feinde 
das Visier aufschlagen durfte, und noch manche schwache Stunde des 
Zauderns, des Zweifelns und des Schwankens mußte überstanden werden; 
doch weder der König noch sein Kanzler ist dem einmal ergriffenen retten- 
den Gedanken je wieder ganz untreu geworden. 
Den Massen des Volkes, die mit wachsender Ungeduld den Ruf des 
*) Hardenberg's Bemerkungen zu Albrecht's Denkschrift, 26. Dec. 1812. 
*#n) Hardenberg's Bericht an den König, 26. Dec. 1812. 
* 55P) König Friedrich Wilhelm, Bemerkungen zu Hardenberg's Bericht, 28. Dec. 1812 
 
	        
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