Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Die Landwehr. 441 
sorgen; das erste Glied des Fußvolks trug Piken, bewaffnete sich erst im 
Verlaufe des Kriegs zum Theil mit erbeuteten feindlichen Gewehren. 
Monate mußten vergehen bis eine solche Truppe in der Feldschlacht 
verwendet werden konnte. Während des Frühjahrsfeldzugs wurde die 
Landwehr nur nothdürftig eingeübt oder zum Festungskriege benutzt; erst 
nach dem Waffenstillstande rückten sie in größeren Massen in's Feld. Auch 
dann noch bildete die Linie, der ja alle höheren Führer und die technischen 
Truppen ausschließlich angehörten, selbstverständlich den festen Kern des 
Heeres. Kleist hatte unter den 41 Bataillonen seines Corps 16 Land- 
wehrbataillone, Bülow unter der gleichen Zahl nur 12; nur in Vork's 
Corps überwog die Landwehr — mit 24 Bataillonen unter 45. Die 
Wehrmänner hatten noch eine Zeit lang mit den natürlichen Untugenden 
ungeschulter Truppen zu kämpfen: beim ersten Angriff hielten sie nicht 
leicht Stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer sie in Schrecken 
setzte; kam es zum Handgemenge, dann entlud sich die lang verhaltene 
Wuth der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren sie 
schwer wieder zu sammeln, da sie den geschlagenen Feind immer bis an 
das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre 
Haltung sicherer, und gegen den Herbst hin begann Napoleon's Spott über 
„dies Gewölk schlechter Infanterie“ zu verstummen. Die kampfgewohnten 
Bataillone der Landwehr waren allmählich fast ebenso kriegstüchtig ge- 
worden wie das stehende Heer, wenngleich sie weder mit der Disciplin 
noch mit der stattlichen äußeren Haltung der Linientruppen wetteifern 
konnten und immer unverhältnißmäßige Verluste erlitten: — eine in der 
Kriegsgeschichte beispiellose Thatsache, die nur möglich ward durch den 
sittlichen Schwung eines nationalen Daseinskampfes. Schwerer, natür- 
lich, gelang die Ausbildung der Landwehrreiter; doch haben auch sie unter 
kundigen Führern manches Vortreffliche geleistet. Marwitz ließ seine mär- 
kischen Bauernjungen ihre kleinen Klepper nur auf der Trense reiten, ohne 
Kandare und Sporen, störte sie nicht in ihren ländlichen Reiterkünsten, 
verlangte nur, daß sie Pferd und Waffen mit Sicherheit zu brauchen 
lernten, und brachte diese naturwüchsige Cavalerie nach kurzer Zeit so weit, 
daß er von ihr im Felddienste alles fordern konnte. 
Nach der Einberufung der Landwehr vergingen wieder fünf Wochen 
bis am 21. April das Gesetz über den Landsturm unterzeichnet wurde. 
Die Cadres der Landwehrbataillone mußten erst formirt sein bevor man 
zum Aufgebote der letzten Kräfte des Volkes schreiten konnte. Scharnhorst 
stand damals schon fern von Breslau im Feldlager. Schwerlich ist der 
General ganz einverstanden gewesen mit Form und Inhalt dieses von 
einem Civilbeamten Bartholdi verfaßten Gesetzes, das einem gesitteten 
Volke Unmögliches zumuthete und, vollständig durchgeführt, der Krieg- 
führung beider Theile das Gepräge fanatischer Barbarei hätte geben 
müssen. Ausdrücklich war der furchtbare Grundsatz ausgesprochen, daß
	        
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