Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

512 I. 5. Ende der Kriegszeit. 
der Demüthigung eines abtrünnigen Vasallen beschließen konnte. An 
70,000 Mann gelangten noch auf das linke Rheinufer. Hier aber brach 
die letzte Kraft der Unglücklichen zusammen; furchtbare Krankheiten lich- 
teten ihre Reihen, und während einiger Wochen war Frankreich ohne Heer, 
widerstandslos gegen jeden Angriff. Die 190,000 Mann, die noch zer- 
streut in den Festungen Norddeutschlands und Polens standen, gab Na- 
poleon selbst verloren; er erbot sich zur Räumung der Oder= und Weichsel- 
linie, wenn nur die Garnisonen freien Abzug erhielten, aber die Verbündeten 
durchschauten die Kriegslist und weigerten sich dem Verzweifelten ein neues 
Heer zu schenken. 
Dem Corps Bülow's wurde die Freude, die verlorenen westlichen Pro- 
vinzen wieder in Besitz zu nehmen. Sobald die Kunde von der Leipziger 
Schlacht kam, holte der westphälische Steuerdirector von Motz sofort seine 
alte Uniform hervor und trat in Mühlhausen als königlich preußischer 
Landrath auf; das Volk gehorchte als verstünde sich's von selber. Ueberall 
wurden die Befreier mit offenen Armen aufgenommen, nirgends mit lau- 
terem Jubel als in Ostfriesland, dem Lieblingslande des großen Königs. 
Die alten Fahnen und Embleme der fridericianischen Zeit, wohl geborgen 
in dem schönen Waffensaale des Rathhauses zu Emden, kamen alsbald 
wieder zum Vorschein, als die Blücher'schen Husaren einzogen und nach 
ihnen Friccius mit der ostpreußischen Landwehr. Wie viel Zorn und 
Kummer hatte der treue Vincke die letzten Jahre über hinuntergewürgt, 
während er still auf seinem Gute in der Grasschaft Mark saß. Die 
Franzosen witterten wohl, daß seine ökonomische Lesegesellschaft in Hamm 
sich nicht bloß mit der Landwirthschaft beschäftigen mochte; eine Zeit lang 
verwiesen sie ihn auf das linke Rheinufer, denn der Freund und Nach- 
folger Stein's dürfe nicht diesseits des Rheins bleiben, so lange die Russen 
diesseits der Oder ständen. Endlich wieder freigelassen erwartete er stünd- 
lich eine neue Verhaftung. Da kam ein Eilbote von den rothen Husaren 
aus Hamm; spornstreichs eilte Vincke hinüber, befahl sogleich in einem 
Rundschreiben allen Bürgermeistern bis zum Rheine sich dem rechtmäßigen 
alten Herrn wieder zu unterwerfen, übernahm die Leitung der Verwaltung 
in allen altpreußischen Gebieten Westphalens und dehnte seine Gewalt 
ohne Weiteres auch über einige Enclaven, Dortmund, Limburg, Corvey 
aus. Ein Rausch der Freude ging durch das befreite Land; man er- 
kannte die stillen, ernsthaften Menschen der rothen Erde kaum wieder. 
Dieselben herzerschütternden Auftritte opferfreudiger Erhebung, welche 
das Frühjahr in den östlichen Provinzen gesehen, wiederholten sich jetzt 
im Westen. Zwei der angesehensten Grundherren erließen einen Aufruf, 
natürlich mit dem preußischen Adler darüber, begrüßten die Befreier mit 
überschwänglichen Worten — „wer, biedere Landsleute, ward nicht von 
einem heiligen Wonneschauer durchdrungen, wie er die ersten Preußen 
als seine Erretter in unserer Mitte sah?“ — und forderten die Markaner
	        
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