Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

56 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
eigene Macht reichte noch nicht aus, den tapferen Widerstand der Königin 
von Ungarn gänzlich zu brechen. Der zweite schlesische Krieg endete trotz 
der Triumphe von Hohenfriedberg und Kesselsdorf mit der Wiederher- 
stellung des österreichischen Kaiserthums. Das Reich verblieb in seiner 
verfassungslosen Zerrüttung, Franz von Lothringen bestieg den Kaiser- 
thron nach dem Tode Karl's VII., und von Neuem schloß sich der alte 
Bund zwischen Oesterreich und der katholischen Reichstagsmehrheit. 
Die Lösung des deutschen Dualismus war mißlungen; schroffer, 
feindseliger denn je zuvor gingen die Parteien im Reiche auseinander. 
Gleichwohl blieb dem Könige ein dauernder Gewinn gesichert: die Groß- 
machtstellung Preußens. Er hatte Baiern vom Untergange gerettet, die 
Macht seines eigenen Landes um mehr als ein Drittel verstärkt, die lange 
Kette habsburgisch-wettinischer Gebiete, welche den preußischen Staat im 
Süden und Osten umschloß, mit einem kühnen Stoße zersprengt, das stolze 
Kaiserhaus zum ersten male vor einem Reichsfürsten tief gedemüthigt. 
Er dankte alle seine Siege allein der eigenen Kraft und trat den alten 
Mächten mit so festem Stolze entgegen, daß selbst Horatio Walpole ge- 
stehen mußte, dieser Preußenkönig halte jetzt die Wage des europäischen 
Gleichgewichts in seinen Händen. Sachsen, Baiern, Hannover, alle die 
Mittelstaaten, welche soeben noch mit der Krone Preußen gewetteifert, 
wurden durch die schlesischen Kriege für immer in die zweite Reihe zurück- 
geworfen, und hoch über den zahllosen kleinen Gegensätzen, die das Reich 
zerklüfteten, erhob sich die eine Frage: Preußen oder Oesterreich? Die 
Frage der deutschen Zukunft war gestellt. Der König blickte jetzt aus 
freier Höhe auf das Gewimmel der deutschen Reichsstände hernieder, gab 
auf beleidigende Zumuthungen gern die spöttische Antwort, ob man ihn 
etwa für einen Herzog von Gotha oder für einen rheinischen Fürsten halte; 
er spielte bereits, den kleinen Nachbarn gegenüber, die Rolle des wohl- 
meinenden Gönners und Beschützers, die er in seinem Anti-Machhiavell 
als die schöne Pflicht des Starken bezeichnet hatte, und schon sammelte 
sich am Reichstage eine kleine preußische Partei, die norddeutschen Höfe 
begannen ihre Prinzen im Heere des Königs dienen zu lassen. 
Unterdessen verwuchs die neue Erwerbung überraschend schnell mit 
der Monarchie; der Staat erprobte zum ersten male auf einem weiten 
Gebiete jene starke Anziehungs= und Anbildungskraft, die er seitdem in 
deutschen und halbdeutschen Landen überall bewährt hat. Die frischen 
Kräfte der modernen Welt hielten ihren Einzug in die verwahrloste, 
unter ständischem und geistlichem Drucke darniedergehaltene Provinz; das 
monarchische Beamtenthum verdrängte die Adelsherrschaft, das strenge 
Recht den Nepotismus, die Glaubensfreiheit den Gewissenszwang, das 
deutsche Schulwesen den tiefen Seelenschlaf pfäffischer Bildung; der träge 
knechtische Bauer lernte wieder auf ein Morgen zu hoffen, und sein König 
verbot ihm den Beamten knieend den Rock zu küssen.
	        
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