Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

784 II. 2. Belle Alliance. 
die in Ermangelung von Gründen eine unerhörte Fülle moralischer Ge— 
meinplätze entfaltete: „Soll Europa darum den militärischen Despotis- 
mus besiegt und den Geist der Eroberung vernichtet haben, um jetzt aber- 
mals aus einem Könige von Frankreich ein Opfer zu machen und dem 
Königthume eine neue Entheiligung zu bereiten? Das hieße die Sittlich- 
keit für immer aus allen politischen Verhandlungen verbannen. Die 
Gewalt allein würde dann Grundsatz, Mittel und Zweck der Staatskunst 
werden! Frankreich erniedrigt und durch eine Reihe willkürlicher Maß- 
regeln noch mehr sittlich verdorben, müßte sich schließlich in die Arme der 
gewaltsamsten Partei werfen. Eine vorübergehende Occupation bietet den 
Nachbarn Frankreichs jede Sicherheit, die sie nur wünschen können.“" Zum 
Schluß: „Verkennen wir in einem so entscheidenden Augenblicke nicht den 
unwandelbaren Gang der Vorsehung, welche die Sache der Religion, der 
Sittlichkeit und Gerechtigkeit nur darum hat straucheln lassen, um ihr 
neue Triumphe zu bereiten und um den Fürsten wie den Völkern große 
und heilsame Antriebe zu geben!“) 
Als dies Musterstück orientalischer Kanzelberedsamkeit am 5. Sep- 
tember den preußischen Staatsmännern überreicht wurde, hatten sie be- 
reits ihre letzte Hoffnung auf England aufgeben müssen. Castlereagh's 
Bruder Lord Charles Stewart war nach Windsor geeilt und in den letzten 
Tagen des August zurückgekehrt mit der frohen Botschaft, daß er den 
Einfluß des Grafen Münster überwunden, den Prinzregenten gänzlich 
für die Ansicht Castlereagh's und Wellington's gewonnen habe. Mit er- 
höhtem Selbstgefühle durften die Beiden nun vorgehen. Der Herzog er- 
widerte (31. August) auf Hardenberg's letzte Denkschrift kurz und scharf: 
jede Gebietsabtretung sei unpolitisch und widerrechtlich, weil nicht im Ein- 
klange mit der Wiener Erklärung der Verbündeten; die Occupation für 
einige Jahre genüge vollauf.“) Castlereagh aber erklärte (2. September) 
im Namen des Prinzregenten Englands volle Zustimmung zu den rus- 
sischen Vorschlägen. So war man denn in offener Zwietracht: Rußland 
und England versagten sich grundsätzlich jeder Gebietsforderung Preußens; 
Oesterreich — mit seinem schüchternen Verlangen nach Schleifung der 
elsassischen Grenzplätze — stand scheinbar in der Mitte, doch in Wahr- 
heit der englisch-russischen Meinung sehr nahe. Sollte dies an Geld und 
Truppen erschöpfte Preußen jetzt seine Forderungen mit den Waffen durch- 
setzen? Daran war nicht zu denken. 
Aber auch der Czar fühlte, daß er seinem besten Alliurten nicht eine 
unbedingte, demüthigende Unterwerfung zumuthen durfte, da er doch die 
Fortdauer des preußisch-russischen Bündnisses dringend wünschte. Er be- 
schloß daher schon am 7. September ein wenig einzulenken, freilich nur 
  
*) Capodistrias, Réponse au mémoire du général de Gneisenau, 5. Sept. 1815. 
*P) Wellington's Denkschrift an Hardenberg, 31. Aug. 1815.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.