Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Canning. 265 
folgt hatte, meinte er kurzab, das sei der größte Lügner und Schuft des 
Continents, und legte fortan alle die salbungsvollen politischen Sitten— 
predigten der Hofburg mit einem trockenen Witze bei Seite. Er wußte 
wohl, daß Englands kleines Heer kaum wagen durfte den Franzosen in 
Spanien mit dem Schwerte zu begegnen. Dafür hielt er eine andere 
Waffe bereit, um die Nachbarn, falls sie den Einmarsch wagten, empfindlich 
zu züchtigen: wenn England die thatsächlich schon halb vollzogene An- 
erkennung der Unabhängigkeit Südamerikas zuerst förmlich aussprach, dann 
wurden die Interessen Frankreichs und Spaniens schwer geschädigt, die 
britische Flagge gewann die Vorhand auf dem neu erschlossenen Markte 
und konnte sich vielleicht dort im Westen ein anderes größeres Portugal, 
ein unermeßliches Gebiet handelspolitischer Ausbeutung sichern. 
Ebenso gut englisch war Canning's Urtheil über die orientalischen 
Wirren. Er hatte sich schon als Student durch seine reiche classische 
Bildung hervorgethan und vor Jahren sogar philhellenische Gedichte 
geschrieben, wie er auch jetzt noch den griechischen Rebellen seine mensch- 
liche Theilnahme nicht versagte. Darum war er doch keineswegs gewillt, 
die drückende Gewaltherrschaft, welche sein England gegen die Hellenen 
der ionischen Inseln ausübte, irgend zu mildern. Den Bestand des 
Türkenreichs hielt er, gleich der ungeheuren Mehrzahl seiner Landsleute, 
für eine europäische — das will sagen, eine englische — Nothwendigkeit, 
weil die wirthschaftliche Hilflosigkeit der schlummernden Balkanvölker dem 
britischen Kaufmann einen so bequemen Markt bot. Um diesen treuesten 
Bundesgenossen Alt--Englands nicht zu schwächen, wollte er den Griechen 
niemals mehr als die Rechte eines halbselbständigen Vasallenstaates, wie 
sie Serbien bereits besaß, einräumen. Ungleich wichtiger als die Zukunft 
der Hellenen war ihm der Kampf gegen Rußlands orientalische Politik. 
In dem Mißtrauen gegen den Petersburger Hof stimmte er ganz mit 
Londonderry und den Hochtorys überein, nur wollte er die russischen Pläne 
durch Thaten, nicht bloß, wie Metternich, durch Hinhalten und Zuwarten 
bekämpfen. 
Wohl war es ein Segen, daß endlich wieder der grelle Lichtstrahl einer 
kräftigen nationalen Politik in die Nebelwelt der europäischen Reaktion 
hereinbrach. Und Canning schritt mit der Geschichte, er erkannte doch 
einige der jugendlichen Kräfte, die sich im Völkerleben emporrangen, in 
ihrer Berechtigung an; die Gedanken seiner britischen Machtpolitik be- 
rührten sich, wenn auch nur zufällig, mit manchen Herzenswünschen der 
Liberalen des Festlands. Meisterhaft verstand er diesen Vortheil zu benutzen. 
Wie einst die beiden Pitt das große Wort vom europäischen Gleich- 
gewicht verwendet hatten um die Interessenpolitik der englischen See- 
herrschaft rednerisch zu umhüllen, so gebrauchte jetzt ihr Nachfolger das 
neue Schlagwort von der Freiheit der Völker, das späterhin als bewährtes 
Erbstück in den Wörterschatz Lord Palmerston's überging. Entzückt lauschte
	        
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