22 III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Der Wortlaut des Artikels erschien so dehnbar, daß sich jede der bestehen-
den Verfassungen zur Noth damit vertrug und Baiern ebenso unbedenk-
lich wie Sachsen und Hannover zustimmen konnte. An den vorhandenen
Zuständen änderte die Verkündigung des monarchischen Princips nichts;
nur mit dem System der reinen Parlamentsherrschaft, das in Deutsch-
land erst vereinzelte machtlose Anhänger fand, war sie unvereinbar.
Die nämliche Unklarheit der staatsrechtlichen Begriffe bekundete sich
wieder, als die Conferenz über das Geldbewilligungsrecht der Landtage
verhandelte. Die Berathenden ahnten dunkel, daß jede geordnete Staats-
verwaltung unmöglich wird, sobald die Volksvertretung alle Posten der
Staatsausgaben nach Gutdünken streichen kann. Aber die schwierige Frage
des constitutionellen Budgetrechts war bisher weder von der Wissenschaft
noch in der Praxis gründlich erörtert worden. Noch hatte Niemand die
einfache Frage aufgeworfen: ob denn wirklich das Etatgesetz der Rechts-
titel sei, kraft dessen der constitutionelle Staat seine Ausgaben leiste? —
Niemand auf die unbestreitbare Thatsache hingewiesen, daß weitaus die
meisten Ausgaben der deutschen Staaten, die regelmäßigen Besoldungen,
die Zinsen der Staatsschulden u. s. f., auf älteren Gesetzen beruhten, und
mithin den Volkskammern auch nicht das Recht zustehen konnte, diese
Gesetze durch willkürliche Geldverweigerung einseitig aufzuheben. Unsicher
tastend suchte die Conferenz nach einem Auswege. Marschall schlug vor,
die Landstände sollten keine Leistungen verweigern dürfen, die zur Erfül-
lung der bestehenden Verwaltungsgesetze nothwendig seien. Doch die Be-
sonnenen fühlten, wie leicht sich dieser Antrag des Ultras zur Zerstörung
des Budgetrechtes der Landtage mißbrauchen ließ. Schließlich fand man
rathsam, die heikle Streitfrage mit Stillschweigen zu übergehen und ließ
es bewenden bei der selbstverständlichen Bestimmung (Art. 58), daß die
Souveräne durch keine landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer
bundesmäßigen Verpflichtungen beschränkt werden dürften.
Unter allen Vorschriften der neuen Verfassungen erschien keine der
diplomatischen Scelenangst so gefährlich wie die Oeffentlichkeit der Land-
tagsverhandlungen. Ueber die Verwerflichkeit dieses demagogischen Unfugs
war man in Wien ebenso einig wie vordem in Karlsbad. Die Minister
der constitutionellen Staaten ergingen sich in bitteren Klagen über die
Zügellosigkeit der parlamentarischen Beredsamkeit*); Alle gestanden zu,
daß die unbeschränkte Veröffentlichung solcher Reden den heilsamen Vor-
schriften des neuen Preßgesetzes widerspreche, und Metternich meinte, durch
diesen Mißbrauch werde jeder Staat, der nicht mindestens 10 Mill. Ein-
wohner zähle, unrettbar zu Grunde gerichtet. Gleichwohl trug Zentner
Bedenken, sich auf eine Abänderung der bairischen Verfassung einzulassen.
Die Ultras unterlagen auch diesmal, und man gelangte wieder nur zu
*) Bernstorff's Bericht, 12. Dec. 1819.